Herr Klee und Herr Feld | Roman
üblich, sagte der Beamte ohne jede Ironie.
Und wie kommen Sie darauf?
Die Leiter, Monsieur. Sie stand am Fenster im Schlafzimmer.
Eine Leiter? Alfred konnte es nicht glauben.
Ihre Maman war siebenundachtzig Jahre, wie uns die Nachbarin bestätigte, da braucht man schon eine Leiter, um auf das Fensterbrett zu steigen und sich herauszustürzen. Außerdem gibt es vor dem Fenster ja noch das Gitter. Und die Geranien.
Ich weiß.
Wann können Sie hier sein, Monsieur?, fragte der Polizist.
Übermorgen. Ich muss Termine absagen und …
Kommen Sie bitte so schnell wie möglich, sagte der Mann. Sie müssen Ihre Frau Mutter identifizieren. Solange bleibt sie in der Morgue.
Ich muss sie was? Jeder im Haus kennt sie. Fragen sie die Nachbarin, sie sind befreundet.
Der Beamte wurde lauter:
Monsieur, ich habe Verständnis für Ihre Situation, aber wir müssen darauf bestehen, dass Sie als ihr nächster Verwandter Madame Kleefeld offiziell und amtlich identifizieren. Und zwar morgen. D’accord?
Ja, sagte Alfred, natürlich, ich komme.
Capitaine Maurizot diktierte Alfred noch die Adresse und die Telefonnummer des Reviers, wünschte ihm noch »bonne nuit« – dann war das Gespräch beendet.
Bonne nuit! Alfred öffnete die Balkontür und trat auf seine kleine Loggia. Er sah hinaus in die römische Nacht. Von unten kamen die Geräusche des Lebens. Menschen lachten, Autos hupten, Musik war zu hören. Und sie lag in Nizza in der Morgue! Alfred beugte sich über das Geländer und sah hinab in die Via Tomacelli. Wie hoch mochte das hier sein? Was gehörte dazu, sich einfach abzustoßen und zu fliegen. Er atmete tief durch und sah in den nachtschwarzen Himmel, wo man ein paar helle Sterne wahrnehmen konnte.
Er musste Moritz Bescheid sagen. Wie spät war es jetzt in Oakland?
Ach, du bist es, Alfred, sagte Fanny in ihrer unverbindlichen Art. Sie hatte ihn noch nie Freddy genannt.
Ich komme gerade aus dem Pool und …
Ist Moritz da?, unterbrach er sie knapp.
Moritz ist in seinem Büro in Berkeley. Du hast die Nummer?
Ja, sagte Alfred, ich habe sie.
Ist was?, wollte sie wissen.
Alfred tat so, als hätte er die Frage überhört.
Ciao, sagte er, ich rufe ihn an.
Und er legte auf.
Eine Minute später hatte er Moritz’ Sekretärin am Apparat und dann endlich seinen Bruder.
Freddy?, sagte der.
Mom ist tot, sagte Alfred.
Eine Pause entstand.
Was? Sie ist … wann ist sie …, also ich meine … und wie …
Es war merkwürdig, dachte Alfred, selbst ein Akademiker vom Rang eines Professors Kleefeld war nicht in der Lage, die schlichten Worte »tot« oder »gestorben« auszusprechen!
Sie hat sich vor ein paar Stunden umgebracht, sie hat sich aus dem Fenster gestürzt.
Nein!, sagte Moritz.
Doch, sie hat sich eine Leiter geholt …
Dann brach es aus ihm heraus. Er weinte mit einem Mal tausend bittere Tränen, er schluchzte und stöhnte. Es war wie eine Sturzflut, die aus ihm kam.
Freddy, rief Moritz immer wieder, Freddy, sag was! Bist du noch da?
Der Telefonhörer wurde nass.
Ich fahre morgen hin, sagte Alfred irgendwann weinend.
Dann legte er auf.
Einen Moment später rief Moritz zurück.
Freddy, hör zu, ich versuche, gleich einen Flieger zu kriegen. Wir schaffen das.
Okay, antwortete Alfred, ach, und noch was. Du kommst doch allein, oder?
Ja, sagte Moritz.
Während des gesamten Flugs hatte Alfred aus dem Fenster gesehen und nachgedacht. Er hatte nicht die geringste Lust verspürt, mit dem Geschäftsmann neben ihm in Kontakt zu kommen, obwohl der förmlich danach lechzte, ihn anzusprechen, wie es Alfred schien.
Er hatte den Flug am frühen Morgen über das Reisebüro gebucht und dann bei der Produktionsfirma angerufen und den Dreh abgesagt, der für den nächsten Montag vorgesehen war. In der Firma hatte man Verständnis. Dann hatte er eine Weile mit seinem Freund Enrico telefoniert, der ihm Trost zusprach und meinte, dass siebenundachtzig doch ein gesegnetes Alter sei und wenn jemand nicht mehr leben wolle, solle man das akzeptieren. Das konnte Alfred nicht. Er sah den Selbstmord seiner Mutter als eine Bestrafung seiner Person. Sie hatte ihm noch einmal wehtun wollen.
Als er schon mit seiner Tasche an der Tür war, klingelte das Telefon. Aldo Serafini war dran und beschwor ihn, die Rolle nicht sausen zu lassen. Er würde den Dreh umdisponieren, damit Alfred an Bord bliebe. Das tat ihm gut und er versprach, so schnell wie möglich nach Triest zu kom- men.
Alfred presste seine Stirn an das
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