Herr Möslein ist tot (German Edition)
beobachtet gespannt das Spektakel. Ich weiß, was kommt. Als dem Showverantwortlichen klar wird, dass er keine Nebelgenehmigung mehr bekommen würde, schaut er uns an und fragt ganz aufgeregt: »Mädels, ich habe eine geniale Idee. Könnt ihr euch nicht zur Musik der Lasershow tänzerisch bewegen und dazu mit dem neuen Puderspray der Kosmetikfirma in den Laserstrahl sprayen und ihn so sichtbar machen?« Natürlich können wir, wir sind ja Profis. Nach kurzer Probe steht der Plan, und wenig später füllt sich der Saal mit extrem gut und extravagant gekleideten Hamburgern. Wie ich weiß, ist die gesamte Hamburger High Society vertreten: von der Starfriseurin bis zur Startoilettenfrau, vom Starvisagisten bis zum Starhundeausführer. Ich kenne auch diesmal nicht einen der Anwesenden. Ich beneide Betty ein bisschen. Für sie ist das alles aufregend und neu.
Die Show läuft großartig. Die Laserstrahlen und -bilder werden im Pudernebel der von uns im Takt der Musik gesetzten Spraystöße sichtbar. Zum Finale stehen Betty und ich, der Mann von der Lasershow, der Chef der Kosmetikfirma und der Agenturdirektor auf der Bühne. Das Saallicht geht an, während wir, an den Händen gefasst, in tiefer Verbeugung verharren. Ich kann nicht anders, ich muss jetzt schon lachen und flüstere Betty zu: »Ksss! Guck unbedingt gleich genau auf die erste Reihe!«
Wir richten uns wieder auf, die anwesenden Stargäste applaudieren und Betty kneift mich in die Seite. Sie kann sich kaum halten vor Lachen und nickt mit dem Kopf Richtung Publikum. Die gesamte erste, aufgeputzte Promireihe samt weißer Hemdkrägen und Rüschenblusen ist braun eingepudert. Zum Schreien ulkig. Noch ulkiger ist, dass sich niemand etwas anmerken lässt. Die frisch gebräunten Premierengäste stehen auf und lustwandeln zur After-Show-Party in den Nebenraum. Was für eine überzeugende Produkteinführung. Vielleicht haben wir damit die bahnbrechende Grundlage für die spätere Entwicklung von Bräunungsduschen gelegt!
In dieser Form erheitert, klopft Betty bei unserer Rückkehr an die Tür des Pulverfasses. Dass ich nach einem langweiligen und anstrengenden Arbeitstag noch die Energie und vor allem die Lust habe, die Schaufensterjungs live und nackig zu erleben, muss der Tatsache geschuldet sein, dass mein altes Hirn hormonell vernebelt oder verpudert ist. Als man uns tatsächlich kostenlos in die Vorstellung nur für Frauen einlässt und wir nicht zu einem obligatorischen Erstgetränk gezwungen werden, sondern beide ein Gläschen Sekt spendiert bekommen, fühle ich mich, als ob ich gönnerhaft ein Westpaket an DDR -Bürger Betty verschickt hätte. Außer uns sind nur wenige andere Geschlechtsgenossinnen anwesend. Direkt gegenüber sitzt ein weibliches Liebespaar. Die beiden werden sich gleich ekeln, denke ich, als sich der Bühnenvorhang öffnet. Hinter sechs mannshohen Penissen, die rechts und links der Bühne aufgestellt wurden, tanzen ebenso viele, sehr hübsche Männer in eng anliegenden Radlerhosen und beginnen – vor unseren Augen – ihr bestes Stück zu massieren. Ich schlürfe lässig meinen Sekt, Betty reißt sich ihre Brille von der Nase und beginnt mit einem Zipfel ihrer Bluse hektisch die Gläser zu putzen. Bei meinem ersten Besuch im Pulverfass war ich genauso fassungslos und später, nach dem Mauerfall, extrem neugierig auf alles mir bis dahin unbekannte Sexuelle.
In der DDR gab es fast nur wissenschaftliche Literatur über Sexualität. Das Buch »Mann und Frau intim« musste ich mir aus dem elterlichen Regal stehlen, um mir nach eigener zweijähriger Praxis endlich ein paar rudimentäre Kenntnisse der menschlichen Sexualität aneignen zu können. Darum war es für mich nicht verwunderlich, dass DDR -Bürger für die ersten erwähnenswerten Schlangen in Westberlin sorgten, nämlich die vor den Sexshops. Auch wenn uns schon immer ein sehr entspannter und tabuloser Umgang mit der Sexualität nachgesagt wurde, brachte die Maueröffnung neuen Schwung in sozialistische Betten. Jedenfalls in meins. Mit jedem weiteren Besuch einer Striptease-Bar und jeder Bestellung bei Beate Uhse ließ mein Interesse an derlei Material allerdings wieder nach. Als ich mit Carsten 2009 zum fünften Mal die Reeperbahn besuchte, tat ich es nur noch aus sentimentalen Erinnerungsgründen. Ich wollte Carsten am Ort der Geschehnisse die Geschichte mit Herrn Möslein erzählen und wurde von ihm schon nach einem Satz unterbrochen: »Das kenne ich schon, Tati.« Er war gelangweilt,
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