Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)

Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)

Titel: Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Henner Hess
Vom Netzwerk:
geradewegs durch die verbotene Tür.
    Zuerst war es einfach nur dunkel. Es hing ein merkwürdiger fruchtiger Geruch in der Luft – vielleicht von einer Aprikose herrührend, vielleicht aber auch von einem Duftbaum, wie er bei einigen Kfz-Haltern beliebt ist, die ihren eigenen Muff nicht mehr riechen können. Plötzlich war dem Fickel, als husche ein Schatten an ihm vorbei. Und als er sich umblickte, sah er noch die riesige, gespenstisch wirkende Silhouette des Buckligen im Treppenhaus verschwinden, der jetzt die Gelegenheit ausnutzte, sich in der dem Fickel entgegengesetzten Richtung durch die geöffnete Tür zu bewegen.
    »Hallo?«, rief ihm der Fickel hilflos hinterher. Aber irgendwo fühlte er sich in dieser Sache auch nicht zuständig. Als sich seine Augen langsam an das Dämmerlicht gewöhnt hatten, ging er weiter und bog auf einen langen Flur, der im Grunde genauso aussah wie die in den anderen Stockwerken. Nur dass das Linoleum hier noch etwas ausgeblichener war und die Wände seit sechzig Jahren keinen Tropfen Farbe mehr gesehen zu haben schienen. Es roch nach verbrauchter Luft, und im Gegensatz zu den anderen Etagen war es hier oben ausgesprochen still.
    Der Fickel ging den Flur entlang und lauschte immer wieder. Doch nirgendwo waren Stimmen zu vernehmen, geschweige denn ein Radio. Einem plötzlichen Impuls folgend, klopfte er an eine der Türen. Keine Antwort. Vorsichtig drückte er die Klinke runter und linste durch den Spalt. In dem Zimmer befanden sich drei Betten, auf denen drei Körper lagen. Es handelte sich um zwei offenbar knapp hundertjährige, völlig abgezehrte Gestalten und einen etwa halb so alten Mann, der genauso ausdruckslos an die Decke starrte wie die beiden anderen. Alle drei waren an Infusionen angeschlossen. Ein medizinisches Gerät surrte. Es war das einzige Geräusch, das zu vernehmen war.
    »Hallo«, sprach der Fickel den Fünfzigjährigen an. »Ich suche jemanden. Können Sie mir helfen?«
    Doch der Mann wandte nicht mal seinen Kopf. Nichts deutete darauf hin, dass er Fickels Anwesenheit überhaupt bemerkte. Auf einmal begann einer der Hundertjährigen Geräusche von sich zu geben: unartikulierte Laute, einem Stöhnen ähnlicher als Worten. Doch als der Fickel mit der Hand vor seinem Gesicht wedelte, schien er das nicht einmal zu registrieren. In keinem der drei Zimmerkollegen schien noch menschliches Bewusstsein zu glimmen.
    Der Fickel blickte auch in andere Zimmer, aber überall bot sich dasselbe Bild. Sehr alte und ein paar wenige jüngere Pflegebedürftige dämmerten in ihren Betten vor sich hin. Nirgendwo gab es Radio oder Fernseher oder sonst eine Zerstreuung in den Zimmern, geschweige denn private Gegenstände. Offensichtlich war für die Zimmerbewohner im ganzen Stockwerk die Zeit stehen geblieben, als Folge von Amnesie, Schlaganfall und anderer Katastrophen. Den Fickel schauderte es bei der Vorstellung: als Person gestorben, aber der Körper lebt weiter. Wie eine Pflanze.
    Im letzten Zimmer traf er eine alte Bekannte wieder: die alte Dame, die bei ihrer ersten Begegnung solch große Angst vor den Russen gehabt hatte und ihn zu guter Letzt hatte küssen wollen. Da sieht man mal wieder, dass der Fickel ein weiches Herz hat, denn es tat ihm direkt in der Seele weh, seine »Verehrerin« hier oben im Reich der Schatten zu sehen. Eigentlich hatte sie auf ihn, mal abgesehen von ihrer Verwirrtheit, doch noch recht fit gewirkt. Der Fickel trat neben sie.
    »Elfriede?«
    Die alte Dame schlug die Augen auf. Immerhin reagierte sie.
    »Horst, bis du das?«, flüsterte sie.
    »Ja«, log der Fickel. »Was machst du denn hier?«
    »Was wohl? Wir verstecken uns vor den Russen!«
    Ihre Augen waren wieder voller Panik.
    »Keine Sorge. Hier bist du sicher«, erklärte der Fickel.
    »Du solltest auch lieber hier bleiben, Horst!«
    »Der Krieg ist vorbei.«
    »Nein! Für uns Frauen geht er immer weiter«, sagte die Elfriede leise. Plötzlich wurde sie sehr unruhig. »Versprich mir, dass du wiederkommst!«
    Der Fickel drückte ihre Hand. »Sobald ich zurück bin, hole ich dich hier raus.«
    Die alte Dame entspannte sich. »Dann heiraten wir«, erklärte sie selig lächelnd.
    Der Fickel hatte genug gesehen und wollte jetzt möglichst schnell wieder raus aus dem Trakt der Scheintoten. Aber zu dumm: Jetzt war die Tür, die das Stockwerk abriegelte, wieder abgesperrt! Er rüttelte mit aller Kraft, aber das Schloss gab nicht nach.
    »Können wir Ihnen helfen, junger Mann?«
    Da standen die beiden

Weitere Kostenlose Bücher