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Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)

Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition)

Titel: Herrentag: Anwalt Fickels erster Fall (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans-Henner Hess
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beziehungsweise die Frau Schmidtkonz fühlte, aber seltsam: Die erste Schwester, die er antraf, verstand kein Wort Deutsch und antwortete ihm in einem wirren Kauderwelsch mit sehr vielen Konsonanten und sehr wenigen Vokalen. Auch wenn der Fickel in Russisch mit Beide-Augen-Zudrücken eine Drei minus gehalten hatte, konnte er dank seiner Kenntnisse die Sprache des einstigen großen Bruders mühelos identifizieren, denn bei ihrem Klang tauchte sofort wieder die Erinnerung an all die herrlichen Schulstunden auf, die er geschwänzt und in der Eisdiele verbracht hatte. Bei der nächsten Pflegerin, die ihn ebenfalls nur aus großen Kajal-Augen anblickte, fragte er schließlich unter Aufbietung seiner Fremdsprachenkenntnisse: »Gdje Towarisch Dietz?« [ 39 ]
    Er wunderte sich selbst am meisten, dass ihn die Pflegerin zu verstehen schien und mit dem Befehl »Poidjom!« aufforderte, ihr zu folgen. Im Wirtschaftsraum trafen sie auf eine circa vierzigjährige hagere Person, die tatsächlich eine entfernte Ähnlichkeit mit der ehemaligen Freundschaftspionierleiterin aufwies, wenn man mal davon absah, dass die echte Heike Dietz »obenrum« niemals in so einen engen Kittel gepasst hätte. Zwischen den beiden Frauen fand ein kurzer Gedankenaustausch auf Russisch statt. Schließlich wandte sich die Angesprochene mit akzentfreiem Deutsch an den Fickel. »Dietz, guten Tag. Wie kann ich Ihnen helfen?«
    Als sie Fickels Verwirrung bemerkte, fragte sie: »Kennen wir uns?« Und der Fickel war so perplex, dass er mit »Ja« antwortete, obwohl er die Hagere mit dem Kurzhaarschnitt noch nie im Leben gesehen hatte. Die andere bemerkte seine Verwirrung und stellte klar: » Ramona Dietz, nicht Heike!« Und jetzt machte es beim Fickel schon wieder klick, denn er erinnerte sich noch gut, wie die Heike stets mit stolzgeschwellter Brust von ihrer Schwester gesprochen hatte, die an der Moskauer Lomonossow-Universität Medizin studierte, auf Deutsch: Spitzenkader, spätere Chefärztin, wenn nicht sogar Raumfahrtforschung. Und jetzt arbeitete sie also in einem Pflegeheim.
    »Ich sorge hier für die medizinische Betreuung«, erklärte Ramona Dietz und sah dabei nicht besonders glücklich aus. »Mein Abschluss wurde hier zuerst nicht anerkannt«, fügte sie ungefragt mit einer gewissen Bitterkeit in der Stimme hinzu. »Deshalb habe ich mit meiner Schwester das Pflegeheim aufgemacht.«
    Der Fickel wollte nicht weiter in der Wunde wühlen und kam auf sein Anliegen zurück. Die Ramona wusste natürlich nichts von dem »Schnupperangebot«, von dem ihr Exschwager gesprochen hatte, aber einen Handyanruf später war sie im Bilde und bereit, dem Fickel »absolut unbürokratisch« zu helfen. Auch sie betonte mehrmals das »solidarische Prinzip«, unter dessen Leitstern die Heimbewohner von den Errungenschaften der modernen Geriatrieforschung profitierten und sich einen abwechslungsreichen Alltag gestalten konnten. Woraus sich dieser »abwechslungsreiche Alltag« im Einzelnen zusammensetzte, führte sie freilich nicht näher aus. Beim Rundgang durch die Anlage erklärte sie auf Fickels Nachfrage, wegen Wartungsarbeiten an der Heizung sei aktuell leider kein Wasser im Pool. Und die schmutzigen Teppiche, na ja, die kämen eh bald raus. Auf Fickels weitere Frage nach den erwähnten »regionalen Fachpflegekräften« reagierte sie hingegen leicht gereizt und murmelte etwas von einem »momentanen Personalengpass«. Was die meisten sich nämlich nicht eingestehen: Altenpflege ist ein echter Knochenjob, im Grunde unmenschlich. Wenn man ehrlich war, sah die Ramona auch ziemlich abgeschlafft aus für ihr Alter.
    Die nächste Gesprächspause nahm der Fickel als Gelegenheit, sich nach seiner ehemaligen Freundschaftspionierleiterin zu erkundigen. Und guck mal einer an: Eigentlich gehörte das Heim beiden Schwestern zu gleichen Teilen, doch die Heike kümmerte sich seit einiger Zeit überhaupt nicht mehr um den Familienbetrieb. Wie die Ramona »ohne was zu unterstellen« suggerierte, machte sie sich lieber mit ihrer Scheidungsrendite und dem mageren Gewinn, den das Heim abwarf, einen faulen Lenz, als sich persönlich um die alten Leutchen zu kümmern. Aber so läuft es überall, insbesondere unter Geschwistern: Die Kleinen müssen für die Großen die Kastanien aus dem Feuer holen.
    Da stellte der Fickel sich im Geiste vor, wie seine alte Freundschaftspionierleiterin auf Kuba weiterhin mit rotem Pioniertuch auf blauer Bluse am Aufbau des Kommunismus arbeitete und mit geballter

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