Kassenwart im Taubenzüchterverein.
Neumann verpasste keinen Krimi im Fernsehen, keine CSI-Folge, und er hatte sich auch schon eine ordentliche Bibliothek an Fachbüchern zugelegt. Auch Kriminalromane las er in rauen Mengen. Nicht so sehr dieses Heimatkrimi-Zeug, das verschwurbelte. Eher die richtigen Klassiker wie Raymond Chandler, moderne Heroen wie Andrew Vachss und Thriller, in denen es psychologisch und schön technisch zuging. Er freute sich besonders, wenn er den Thriller-Autoren Fehler nachweisen konnte. Die postete er dann begeistert auf seiner Facebook-Seite »the criminalist«. Ja, das wollte er werden. Ein Kriminalist. Profiler im LKA vielleicht. Wenn er nächstes Jahr das Abitur auf dem zweiten Bildungsweg machen würde, konnte er sich für den gehobenen Dienst bewerben.
Ein perfekt ausgeführter Spezialauftrag seines Inspektionsleiters wäre eine weitere Gelegenheit, seine Fähigkeiten unter Beweis zu stellen. Natürlich würde es über die Beschattung des Brechtl, Anton, geboren am 5. Mai 1952 in Garmisch-Partenkirchen, nie eine offizielle Akte geben. Ebenso wenig wie über die Beschaffung der Speichelprobe vom Hartinger, für die auch Neumann verantwortlich zeichnete. Doch er wusste, dass es in der Bayerischen Polizei auch Listen gab, die in ganz speziellen Datenbanken abgespeichert wurden: in den Köpfen der Führungsseilschaften. Dass sein Chef Bernbacher zu einer solchen Seilschaft gehörte, war jedem klar. Wie hätte der sonst Leiter einer so großen und wichtigen PI wie der Garmisch-Partenkirchner werden können.
Neumann hatte von Bernbacher ein kurzes Briefing erhalten, das im Wesentlichen lautete: in Zivil den Brechtl überwachen und alle zwei Stunden Lagebericht per E-Mail an Bernbachers Privatadresse
[email protected]. Danach hatte er zu seinem Dienstende um siebzehn Uhr die PI Garmisch-Partenkirchen verlassen, hatte seine Abendverabredungen im Auto per Handy abgesagt, war mit seinem 3er nach Hause gefahren und hatte sich unauffällige Klamotten angezogen: eine schwarze Jeans, ein schwarzes Polohemd und einen dunkelgrauen Janker. In diesem Aufzug war er auch in der draußen gerade anbrechenden Dämmerung sicherlich kaum zu sehen.
Den Brechtl gegen sechs Uhr abends aufzuspüren war nicht allzu schwer. Er arbeitete um diese Zeit sicher noch. Neumann fuhr hinüber zur Tunnelbaustelle, ließ den BMW am Kanu-Parkplatz an der Loisach stehen und ging zu Fuß über die Behelfsbrücke. Er sah Brechtls Mercedes-Geländewagen vor den gelben Baucontainern. Also musste er nur warten, bis der Brechtl Feierabend machte, und sich dann unauffällig an ihn dranhängen.
Profi, der er war, wollte er sich aber vergewissern, ob der zu Beschattende auch wirklich an seinem Schreibtisch im Container saß. Nicht dass er die halbe Nacht auf den Mercedes aufpasste, während der Brechtl mit einem anderen seiner Autos irgendwo durch Garmisch fuhr.
Also schlich er sich im Schutz der in einer Reihe geparkten Kieslaster und Radlader an die Baubüros heran und rannte geduckt zu dem Container, an dessen Tür BAULEITUNG stand. Unter dem Fenster neben der Tür machte er sich ganz klein. Von drinnen hörte er mehrere Stimmen. Auch die einer Frau?
Langsam, ganz langsam steckte er den Kopf nach oben, bis er mit den Augen über die Unterkante des Fensters ins Innere des Containers schauen konnte.
Genau in diesem Moment klatschten zwei nackte Füße von innen gegen die Scheibe. Neumann sah nicht, wo die dazugehörenden unbekleideten Frauenbeine endeten, denn zwischen ihnen stand ein Koloss von einem nackten Mann, der dem Polizisten seinen muskulösen Rücken zuwandte. Es war klar, wo die Frontseite dieses Mannes endete. Auf seinem Rücken prangte zwischen den Schulterblättern eine Tätowierung, die einen Felsen mit einem umgedrehten Kreuz auf der Spitze zeigte. Und weiter unten, direkt über dem sich heftig vor- und zurückbewegenden Hintern, stand in Fraktur »Come in and die!«.
Neumann fingerte das Handy aus der Hosentasche, schaltete auf Filmen und hob das Gerät mit dem kleinen Objektiv vorsichtig über die untere Kante des Fensters.
Rechts neben dem Schreibtisch stand der Bagger-Toni mit einer Videokamera in der Hand. In die situationstypischen Oh- und Ah-Laute der beiden Protagonisten hinein brüllte er seine Regieanweisungen.
Neumann ließ sein Smartphone noch zehn Sekunden laufen, dann hatte er genug mitbekommen. Sein erster Bericht an Bernbacher würde alles andere als langweilig werden. Er verzog sich