Herrin der Falken - 3
gegenüber einer gesellschaftlich unter ihm stehenden benutzt hätte.
»Nein, sie ist frei«, antwortete Jandria. Stirnrunzelnd folgte Romilly ihrem Bruder.
Sie hatte gehofft, an diesem Tag werde sich irgendwann eine Gelegenheit geben, mit Ruyven über ihre Flucht von Falkenhof zu sprechen. Damals – wie lange schien es her zu sein – hatte sie beabsichtigt, den Turm aufzusuchen, in dem er Zuflucht gefunden hatte. Irgendwie hatte sie erwartet, er würde sie dort willkommen heißen. Aber dieser stille, mönchhafte Fremde hatte überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit dem Bruder, der ihr in ihrer Kinderzeit so nahegestanden hatte. Sie konnte sich nicht vorstellen, daß sie sich ihm anvertraute. Jetzt war sie enger mit Jandria und sogar mit Orain verbunden, so förmlich er sich gegen sie benahm.
Sie warf einen Blick zurück auf Sonnenstern. Er entfernte sich stolzen Schrittes mit Dom Carlo – nein, sie mußte daran denken, König Carolin – im Sattel. Eine kurze mentale Berührung erneuerte die alte Kommunikation, und sie merkte, daß sie lächelte.
Ich bin diesem Pferd enger verbunden, als ich es mit irgendeinem menschlichen Wesen je war.
Als sie für den Tag fertig waren, kam Jandria zu ihr. »Die Schwertfrauen, die Carolin folgen, schlafen in einem Zelt am Rand des Lagers. Komm mit mir, Romilly, ich zeige es dir.«
»Ich sollte hier bei den Vögeln bleiben«, antwortete Romilly mit einem Schulterzucken. »Kein Falkenmeister entfernt sich außer Hörweite der ihm anvertrauten Vögel. Ich werde mich in meinen Mantel wickeln, ich brauche kein Zelt.«
»Du kannst nicht zwischen den Männern schlafen«, mahnte Jandria. »Daran ist nicht einmal zu denken.«
»Der Falkenmeister des Königs ist mein Bruder.« Romilly wurde ungeduldig. »Willst du sagen, er könne meine Tugend in Gefahr bringen? Die Anwesenheit meines älteren Bruders ist Schutz genug!«
Jandria gab mit einiger Schärfe zurück: »Du kennst die Regeln für Schwertfrauen außerhalb ihrer Häuser! Wir können nicht jedem in der Armee erzählen, daß er dein Bruder ist, und wenn bekannt wird, daß eine eidgebundene Schwertfrau mit einem Mann allein in einem Zelt übernachtet hat…«
»Ihre Gedanken müssen wie die Kloaken von Thendara sein!«
rief Romilly wütend. »Ich soll meine Vögel wegen der schmutzigen Phantasie einiger Soldaten verlassen, die ich nicht einmal kenne?“
»Es tut mir leid, ich habe die Regeln nicht aufgestellt und kann sie nicht außer Kraft setzen«, sagte Jandria, »aber du hast geschworen, ihnen zu gehorchen.«
Kochend vor Zorn ging Romilly mit Jandria zum Abendessen und zu Bett in das Zelt, das dem Dutzend Frauen der Schwesternschaft in Carolins Armee zur Verfügung gestellt worden war. Sie fand Clea dort zusammen mit einer fremden Frau aus einem anderen Haus. Diese beiden sollten Carolins Männer im unbewaffneten Kampf unterrichten. Die übrigen kannte Romilly nur flüchtig; sie waren im Haus einquartiert gewesen, gehörten ihm aber nicht an. Es waren Pferdehändlerinnen, Zahlmeisterinnen und Lagerverwalterinnen. Eine, eine kleine, stämmige dunkle Frau, die den vertrauten Bergdialekt der Hellers sprach, war Schmiedin mit Sehnen wie Peitschenschnüre an den Armen und schwellenden Muskeln über Rükken und Schultern, die sie fast wie einen Mann aussehen ließen.
Ich kann mir nicht vorstellen, daß ihre Tugend in Gefahr geriete, und wenn sie nackt zwischen hundert fremden Soldaten schliefe. Sie sieht aus, als könne sie sich, wie die Hali’imyn hier sagen, gegen alle Schmiede in Zandrus Höllen verteidigen!
Und dann dachte sie traurig, daß sie mehr Freiheit gehabt hatte, als sie in Männerkleidung mit Orain und Carlo — Carolin — und einer kleinen Gruppe von Flüchtlingen durch die Hellers gereist war. Sie hatte mit den Männern gearbeitet, war allein in die Stadt gegangen, hatte in Kneipen getrunken. Nun wurden ihre Bewegungen auf das beschränkt, was die Regeln der Schwesternschaft als geeignet zur Vermeidung von Klatsch und Störungen ansahen. Nicht einmal als freie Schwertfrau war sie frei.
Immer noch etwas grollend, machte sie sich zum Schlafengehen fertig. Wieder kam ihr der Gedanke: Wie beengt war sogar das Leben dieser freien Frauen! Sie liebte Jandria, und mit ihr konnte sie offen sprechen, ohne erst ihre Gedanken zu zensieren. Doch sogar für Jandria war die Frage wichtig, was die Soldaten denken mochten, wenn die Schwertfrauen sich nicht ebenso damenhaft und vorschriftsmäßig benahmen wie irgendeine heiratsfähige
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