Herrin wider Willen
nie endgültig in deutsche Lande zurückkehren, nie auf Wenthe leben würde. Er fühlte sich den Cartons und ihrer Heimat zugehörig.
Hasenbein sprach abschließende Worte und entließ die Versammelten mit Gottes Segen. Dann gingen sie gemeinsam ins Haus, nach oben in den Großen Saal, in dem sie sich beinah verloren, obwohl sie knapp dreißig Menschen waren.
Die Frauen hatten eine Mahlzeit bereitgestellt, bei der ausnahmsweise nicht gegeizt worden war, sodass die unglücklichen Gesichter des ausgehungerten Gesindes sich aufhellten. Sobald die Gesellschaft an der langen, aufgebockten Tafel saß, wurde die Stimmung an diesem Trauertag ausgelassener als an gewöhnlichen Tagen, von denen Lenz hier vor kurzem immerhin auch eine Handvoll erlebt hatte.
Während des Essens wanderte sein Blick um den Tisch und blieb als Erstes bei Wilhelm Vogt hängen. Lenz hatte darüber gestaunt, dass er erschienen war, da er sich von seinem Vater in Unfrieden getrennt hatte. Vogt hatte es bei seiner Beileidsbekundung damit begründet, dass man einem alten Menschen seinen Eigenwillen nachsehen müsse und keinen Groll über den Tod hinaus bewahren solle. Friedlich und demütig hatte er dabei geklungen, obgleich sein hartes Gesicht und die listigen Augen nicht so wirkten, als sei Demut seine größte Stärke. Lenz hatte sofort überlegt, welchen Vorteil der Mann sich ausrechnete.
Weil Vogt in seinem Alter war und ihm äußerlich ein wenig ähnelte, konnte Lenz nicht umhin, dessen Zukunftsaussichten mit seinen eigenen zu vergleichen. Es war gottgewollt, dass er über dem Verwalter stand und seine Aussichten besser waren. So sah es zumindest die Aristokratie. Lenz war jedoch in einer bürgerlichen Pflegefamilie aufgewachsen, bei einem Mann, der sich nicht scheute, bei Tisch auch den König zu kritisieren. Lenz’ Adel hatte dort nie eine Bedeutung gehabt. Er hatte alle Diskussionen für und wider das Parlament in London, für und wider King Charles mitgeführt, als wüsste er nichts von seinem Titel.
Es hatte für ihn allerdings auch nie einen Anlass gegeben, sich auf seine Privilegien zu berufen. Henry Carton hatte ihn gelehrt, Wohlstand selbst zu erwerben, und ihm den Anfang mit großzügigen Krediten leichtgemacht.
Wilhelm Vogt hatte ganz sicher keinen solchen Freund und Gönner gehabt. Wahrscheinlich war es die wohlberechnete Hoffnung, seine Stellung als Verwalter wiederzubekommen, die ihn zurück nach Wenthe getrieben hatte. Gerade diese berechnende Gewandtheit mochte Vogt in so gefährlichen Zeiten bei der Führung des Gutes zur richtigen Stütze machen. Ada würde entscheiden müssen, ob sie ihn wollte. Er würde es ihr nahelegen.
Ada. Sie saß am anderen Ende der Tafel neben Christopher. Zog sich ein Tuch aus dem Ärmel und wischte sich braune Soße vom Kinn, dann legte sie das Tuch neben den Teller. Sie trug wieder den schrecklichen Kragen. Was muffige Kleidung betraf, wurde sie an jenem Tag bloß von einem der Sargträger übertroffen. Er trug eine Hose mit Braguette, mit einer Schamkapsel. Nur in diesem Land, das seine Zivilisation verloren hatte, konnte so etwas lächerlich Überholtes sich noch halten.
Andererseits mochte solch eine künstliche Schwellung gelegen kommen, um eine echte zu verbergen. Seit dem verpassten Kuss oben an der Treppe hatte Lenz schon einige Male damit zu kämpfen gehabt, wenn er in Adas Nähe war.
Es war ein Glück, dass sein schmerzendes Knie ihm den Vorwand geliefert hatte, seinen Schlafplatz nach unten zu verlegen. Er hatte sich von Luise ein Bett in das Kabinett seines Vaters stellen lassen.
Luise. Sie starrte mit unbewegter Miene blicklos vor sich auf den Tisch. Er hatte keine Lust, sich selbst um sie zu kümmern. Sollte Ada Luises Geheimnisse ergründen und eine Lösung finden.
Sein Blick flog zurück zu Ada, weil sie über etwas lachte, das Christopher gesagt hatte. Er beobachtete einen Augenblick lang, wie zugetan sein Freund ihr war. Als säße sonst niemand am Tisch, so bedachte er sie mit Aufmerksamkeit. Und sie blühte unter seinen Blicken auf.
Das misslaunige Gefühl in Lenz wuchs, der Brocken Brot mit Soße wurde ihm im Mund zäh und fade. Eine verdammte Misere. Es würde so kommen, dass Christopher sich zum ersten Mal ernsthaft verliebte. In meine Frau, dachte Lenz. In meine. Er staunte, wie wütend ihn das machte, obwohl seine Vernunft doch anders entschieden hatte.
Er verfluchte den Tag, an dem er dem Ruf seines Vaters gefolgt war.
»Darf ich Euer Gnaden daran erinnern, dass
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