Herrmann, Elisabeth
Antworten.
Dass seine Ehe in die Brüche gegangen war, weil die Schweigepflicht wie ein
tödlicher Virus die privaten Beziehungen infizierte und irgendwann zerstörte.
Dass er keinen Kontakt mehr zu seinem Sohn hatte, der mit dem Bild seines
Vaters in der Öffentlichkeit nicht klarkam. Dass das Misstrauen, man brachte
es ihm bewusst oder unbewusst entgegen, Freundschaften erschwerte und jedem
Kennenlernen die Unbefangenheit eines Neuanfangs nahm. Quirin Kaiserley
spielte seine Rolle und ließ sich nicht allzu sehr in die Karten schauen. Aber
er gab Koordinaten an. Und wer sie lesen konnte, erfuhr mehr über ihn, als ihm
recht sein konnte.
Auf einem
Block hatte sie bereits zwei Seiten vollgeschrieben. Neben den Müllsäcken lagen
ein ausgebreiteter Stadtplan, ein Kompass und ihr GPS-Gerät, mit dem sie jeden
markierten dark Spot auf dieser Welt finden konnte.
Der Bau
der BND-Zentrale in der Chausseestraße soll eine neue Art von Volksnähe
suggerieren. In Wirklichkeit ist sie ein Hochsicherheitstrakt im Wohngebiet.
Jedes Mal, wenn ich auf dem Weg ins Büro daran vorbeifahre ...
Kaiserleys
Büroadresse: Hausvogteiplatz in Mitte. Aber sie brauchte seine Privatadresse.
Dafür musste sie so viele Anhaltspunkte wie möglich finden und sie zu einem
Fadenkreuz zusammenfügen.
Judith
suchte auf der Karte nach dem ehemaligen Stadion der Weltjugend, einem Gelände
so groß wie fünfzehn Fußballfelder, wo die neue Geheimdienstzentrale auf
Kuschelkurs mit der Bevölkerung gehen wollte. Hell, modern, freundlich, mit
Cafeteria und Andenkenshop. Einem eigenen Internat - für wen eigentlich? -,
eigener Hochschule, eigener Stromversorgung, eigenem Bunker wahrscheinlich,
auch wenn diese Stadt in der Stadt angeblich ohne Keller gebaut wurde. Dafür
verschwand das gesamte Erdgeschoss des Hauptgebäudes in einer fünf Meter tiefen
Kuhle, die das Eindringen böser Mächte verhindern sollte, falls diese nicht
schon am Metallzaun gescheitert waren.
Die Arbeit
der Geheimdienste hat sich in den letzten zehn Jahren elementar verändert.
Observation und Beobachtung wurden verdrängt, dafür wird ein gigantischer
Datenfluss abgeschöpft. Das Spidern ersetzt die persönliche Erfahrung und
Einschätzung.
- Wie
dürfen wir das verstehen?
Der Mensch
macht Fehler und ist aufwendig im Unterhalt. Doch nur durch ihn hat man die
Chance, Entwicklungen zu korrigieren. Es ist falsch, auf hochspezialisierte
Datenüberwachung zu setzen, wenn Terroristen schon längst wieder zu
Flaschenpost und Rauchzeichen zurückgekehrt sind. Ganz abgesehen davon, dass in
den Netzen der totalen Rasterfahndung immer wieder die Falschen hängenbleiben.
- Dagegen
gibt es Gesetze. Siehe großer Lauschangriff.
Alles,
wogegen es Gesetze gibt, wird auch getan. Sonst würde man sie ja nicht
brauchen, oder?
Judith
grinste. Kein Wunder, dass Kaiserleys Exkollegen nicht gerade gut auf ihn zu
sprechen waren. Sie scrollte zum Ende des Interviews, weil dort erfahrungsgemäß
ein oder zwei private Fragen gestellt wurden.
Ich mag
die Gegend rund um den Mauerpark. Ich muss zwar jedes Mal in der Nacht zum 1. Mai mein Auto wegfahren, damit es nach den
unvermeidlichen Krawallen nicht als ausgebranntes Wrack endet...
Mauerpark.
Judith schrieb ihn auf ihre Liste. Mittlerweile hatte sie mehr als zwanzig
Angaben, die sich auf Wegstrecken oder sein Leben ringsum in seinem Kiez
bezogen. Kaiserley ging samstags auf den Kollwitzmarkt, mochte die Kneipen rund
um den Wasserturm, fuhr gerne Straßenbahn und liebte es, dem Sonnenuntergang
zuzusehen. Nicht schlecht. Als Spionin alten Stils hätte sie gute Karten.
Sie ging
zu ihrem Laptop und gab die Positionen in google
maps ein. Das Ergebnis ergab in etwa die Ecke Berlins, in der
Kaiserley sich am häufigsten herumtrieb. Wenn sie noch dazurechnete, dass seine
Wohnung zum Westen hin ausgerichtet war und er als Sport »Treppensteigen«
angegeben hatte, dann lebte er im vierten oder fünften Stock eines älteren
Hauses ohne Fahrstuhl in direkter Nähe einer Straßenbahnhaltestelle und gegenüber
einer Weinhandlung, in der er seinen geliebten Fendant du Valais bekam.
Bingo.
Marienburger Straße, Prenzlauer Berg.
Sie ging
in den Flur und nahm die Transporterschlüssel. Es war halb fünf Uhr morgens.
Die Zeit, in der der Schlaf am tiefsten war.
Quirin
Kaiserley erwachte, weil die leisen Kratzgeräusche nicht zu dem Repertoire
gehörten, an das seine Ohren gewöhnt waren, und er in dieser warmen Nacht nur
in einer Art Dämmerschlaf versunken war.
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