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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Götter zu sprechen kam. »Haben Sie nicht mitgekriegt«, wandte er ein, »daß Gott tot ist? Siehe Die fröhliche Wissenschaft unter der Nummer 125.« – »Wer kennt diese berühmte Stelle nicht?« sagte Z. »Aber sind Sie sicher, daß Götter zu töten ein vielversprechendes Projekt ist? Bedenken Sie, daß Jesus auferstanden ist und daß auch Venus und Fortuna uns in allen möglichenMetamorphosen und Verkleidungen heimsuchen. Ich schließe daraus, daß sich die Götter bester Gesundheit erfreuen, und zwar ganz unabhängig davon, ob wir an sie glauben oder nicht.«

141 »Immerzu werden Umfragen veröffentlicht, wievielmal Sex pro Woche, ob die Zahnkrem grün oder rosa sein soll oder wen man abwählen möchte. Aber noch nie ließen die Meinungsforscher über die Schwerkraft abstimmen. Das mag damit zu tun haben, daß niemand genau weiß, was das eigentlich ist. Die mit großem Aufwand gesuchten Gravitationswellen, von denen Einstein sprach, ließen sich bisher nicht nachweisen, auch nicht mit Hilfe eines Interferometers, das minimale Längenänderungen eines Laserstahls mit einer Genauigkeit von bis zu 10-19 Metern messen kann. Das ist, ich habe mich informiert, eine Zahl mit achtzehn Nullen hinter dem Komma.
    Leuten wie uns, die mehr an der Praxis orientiert sind, mißfällt an der Schwerkraft etwas ganz anderes. Wir ärgern uns, wenn einGlas mit Rotwein umfällt und den Teppich versaut, wenn wir mit dem Fahrrad einen steilen Berg hinaufkeuchen, und darüber, daß unser Kniegelenk schmerzt, wenn man uns über eine steile Treppe zum Abendessen einlädt. Auch würde sich bei einer Befragung herausstellen, daß wir lieber, statt zu stolpern, wie ein Albatros schweben möchten.«

142 Ein kräftiger Mann, der zufällig vorbeikam, blieb stehen und rief über die Köpfe der andern hinweg: »Und wie soll es jetzt weitergehen?« – »Womit?« fragte Z. – »Mit Europa, mit China, mit der Krise.«
    Z., der schlecht geschlafen hatte, gähnte, hielt sich die Hand vor den Mund und sagte so leise, daß ihn niemand verstand: »Woher soll ich das wissen?«

143 »Mit der Haltbarkeit ist es so eine Sache«, gab Z. zu bedenken. »Die Sorge, daß es auf unserem Planeten allmählich eng wird, scheint mir berechtigt. Die Gründe aufzuzählen erübrigt sich. Die Demographen schlagen Alarm, die Klimaforscher liegen sich in den Haaren, die Wirtschaft lahmt, den Eisbären wird es zu warm, und so immer weiter.«
    Die meisten Leute seien freilich bis auf weiteres noch mit näherliegenden Problemen beschäftigt. Sie fragten sich, wie lange es der alte Traktor noch machen werde; stellten fest, daß es bei jedem Unwetter schon wieder durchs Dach tropfe, und auch das neue Hüftgelenk, sagen sie, halte nicht, was der Arzt versprochen habe.
    Die Wissenschaft führe den Beweis, daß dies alles mit der Entropie zusammenhänge. Er selber halte es eher mit dem berühmten Murphyschen Gesetz, dem zufolge alles, was schiefgehen könne, früher oder später schiefgehen werde; das sei eine weniger anspruchsvolle, aber erfahrungsgesättigte Interpretation.

144 Z. überlegte, daß die Elefantenschildkröte, was ihre Haltbarkeit betreffe, uns weit überlegen sei. »Erst recht«, sagte er, »sind viele Bäume uns gegenüber imVorteil, soweit nicht Borkenkäfer, Prozessionsspinner und Miniermotten über sie herfallen. Ich habe mir sagen lassen, daß Mammutbäume, Linden und Zedern es auf über tausend Jahre bringen. Allerdings bezweifle ich, daß es eine Wohltat wäre, das Jahr 3000 zu erleben.«

145 Z. sagte: »Leute, die mit den Künsten beschäftigt sind, pochen auch in dieser Beziehung auf eine Sonderrolle. Sie zerbrechen sich den Kopf über die Halbwertszeit ihrer Hervorbringungen. Sie fürchten, oft mit gutem Grund, daß man sie einfach vergessen könnte. Das ist, wie die Erosion, kein stürmischer, sondern ein unauffälliger Prozeß. Die Vorkehrungen, die manche schon zu Lebzeiten dagegen treffen, sind sehr gründlich. Sie versuchen es mit testamentarischen Verfügungen, Nachlaßregelungen, Archiven, Retrospektiven und Gesamtausgaben. Die Nachwelt jedoch macht, was sie will, und sie behält gewöhnlich recht.«

146 Einmal wollte Z. wissen, ob es unter den Anwesenden jemanden gebe, der unter der Informationsflut zu leiden habe.
    Niemand hob die Hand.
    »So schlimm kann es offenbar mit dieser Sintflut nicht sein.«
    »Doch«, meldete sich eine schüchterne Mädchenstimme. »Zuviel Fernsehkanäle. Das Internet. Dauernd piept es im Posteingang. Und
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