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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Wahrheit hören
    noch deine himmlische Melodie.‹
    Der Verfasser, Eleve eines Priesterseminars, hieß Josif Wissiaronowitsch Dschugaschwili. Er wurde später besser bekannt unter dem Namen Stalin.
    Gerne würde ich auch das Werk eines Großphilosophen zitieren, aber leider ist mir sein Liebeslied entfallen. Ich kann mich nur an die letzte Zeile erinnern. Sie lautet:
    ›… und kniete sie entrückt im Moor.‹
    Auch einem ausgewiesenen Stilkritiker dürfte es schwerfallen, den Dichter zu identifizieren. Er heißt Martin Heidegger.«

154 »Sagen Sie doch einfach: Ich mag keine Gedichte. Das ist verzeihlich. Außerdem ist Ihre Abneigung mehrheitsfähig.«
    Z. gab sich versöhnlich. »Ich wollte den Verfassern nicht zu nahe treten«, sagte er. »Es mag an mir liegen, daß ich oft nicht verstehe, was sie eigentlich sagen wollen. Ich nenne Ihnen aber gern eine polnische Lyrikerin, bei der das anders ist. Sie heißt Szymborska.«
    »Schon wieder eine Polin! Lesen Sie das alles im Original?«
    »Nein. Wie bei anderen Sprachen bin ich auf die Übersetzer angewiesen. Ohne diese schlechtbezahlten Arbeiter im Weinberg der Literatur wären wir arm dran, denn es soll ungefähr fünftausend Sprachen auf der Welt geben. Diesen Reichtum finde ich übrigens erfreulich, auch wenn er Mühe bereitet.«
    »Und was ist so besonders an Ihrer Dichterin?«
    »Ihre Verse spreizen sich nicht, und doch ist jeder Satz eine Überraschung. Man versteht jedes Wort, auch in der Übersetzung. So was von altmodisch, und so was von einleuchtend! Wie sie nur darauf gekommen ist! Leider lebt sie nicht mehr. Sie starb, wie sie gelebt hat, diskret, aber entschieden. Hoffentlich stört Sie das Sz am Anfang nicht.Auf das durchgestrichene ł in ihrem Vornamen können Sie notfalls verzichten. Wollen Sie etwas von ihr hören?«

155     »Das erste Foto
    Wer ist denn der Süße im Strampelanzug?
    Das ist klein Adi, der Sohn der Hitlers …
    Der Schnuller, die Windeln, das Lätzchen, die Rassel.
    Der Bub ist, gottlos und unberufen, gesund …
    Na na, wer wird denn gleich weinen, gut so,
    Der Herr Fotograf unterm schwarzen Tuch macht klick.

    Klingersches Atelier an der Grabenstraße, Braunau …
    Solide Firmen, biedere Nachbarn, Geruch von Hefeteig, Kernseife und so fort …
    Der Lehrer für Weltgeschichte lockert den Kragen
    Und beugt sich gähnend über die Schülerhefte.«

156 Nobelpreis hin oder her, mit dem Ruhm, sagte Z., sei es eine vertrackte Sache. »Wie sagt doch Klopstock in seiner Zweyten Ode von der Fahrt auf der Zürcher See?
    ›Reizend klinget des Ruhms lockender Silberthon,
    In das schlagende Herz, und die Unsterblichkeit,
    Ist ein großer Gedanke,
    Ist des Schweißes der Edlen werth.‹
    Auch wenn ihn keiner mehr liest, zu seiner Zeit, als es noch keine Talkshows gab, wußten alle noch, was er damit sagen wollte.«

157 Die Unauffälligkeit, sagte Z., sei ein Gut, das man nicht geringschätzen sollte.

158 Wenn von jemandem gesagt werde, er sei ja so fleißig, hielt Z. das für ein zweifelhaftes Lob. »Das heißt nur«, sagte er, »daß dem Ärmsten ein nobles Talent fehlt, mit dem jede Katze gesegnet ist: sich jederzeiteinzurollen und mit halbgeschlossenen Augen zu schnurren.«

159 Ab und zu entnehme er den Zeitungen, die eine oder andere Persönlichkeit habe neuerdings keine Rückendeckung mehr, sie sei abgeschoben, abgemeldet, abserviert, abgemeiert, absolut weg vom Fenster. Man habe sie in die Wüste geschickt, und seither sei es, mit einem Wort, still um sie geworden. Er, Z., bringe für solche Karrieristen erst dann Verständnis, ja, vielleicht sogar Erbarmen auf, wenn es von ihnen heiße, im Innern des Landes lebten sie noch.

160 »Manche von euch sagen mir nach, ich sei ein Skeptiker. Weil ich wissen wollte, was das bedeutet, habe ich nachgesehen. ›Einer, der späht, der sich umsieht‹, sagt das Wörterbuch.«
    Eine solche Bezeichnung, sagte Z., könne man sich gefallen lassen. Seinen eigenen Augen zu trauen sei nie verkehrt.

161 Z. hatte die schlechte Angewohnheit, so zu tun, als verstünde jedermann seine Anspielungen. »Sie alle«, sagte er, »kennen den berühmten Text aus dem Jahre 1848, dessen erster Satz lautet: ›Ein Gespenst geht um in Europa.‹ Ich habe den Eindruck, daß der Geist des Kommunismus immer noch spukt, und zwar in Gestalt eines Ektoplasmas.
    Charles Richet, immerhin ein Medizin-Nobelpreisträger, hat diesen Begriff geprägt. Bei seinen spiritistischen Sitzungen konnte er feststellen, daß das
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