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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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Ektoplasma von flüssiger, nebliger Konsistenz ist; daß sein Geruch dem des Ozons ähnelt und eher unangenehm ist; daß es aus der Feuchtigkeit der Schleimhäute des Mediums hervorgeht; und daß es sich, wenn eine Störung der Séance eintritt, sofort wieder zurückzieht.
    Die Vorstellung, die solchen Experimenten zugrunde liegt, läßt sich in einem schlichten Satz ausdrücken. Er lautet: Totgesagte leben länger.«

162 Es war wohl unvermeidlich, daß eines Tages die Rede auf die Kritik des Fortschritts kam. »Ein beliebtes Thema«, sagte Z., »besonders bei allen, die sich des Fortschritts erfreuen. Ich kann ihre Bedenken gut verstehen; denn den meisten unserer Triumphe haftet etwas Tückisches an. Dennoch möchte ich den Anwesenden ein kleines Spiel vorschlagen. Garantiert und ausnahmslos unschädliche Hervorbringungen des menschlichen Geistes gibt es vermutlich nicht; wer es darauf abgesehen hat, könnte auch mit einem harmlosen Schraubenzieher seinen Nächsten umbringen. Aber was fällt Ihnen ein, wenn Sie sich auf die erfreulichsten Erfindungen unserer Gattung besinnen?«
    Sofort erhob sich ein wirres Palaver, bis einer die Initiative ergriff und bat, bei der Suche alphabetisch vorzugehen. Mehrere gingen mit gutem Beispiel voran.

163 »Der Alleskleber«, war zu hören, »der Aschenbecher«. »Der Aufzug«, rief eine alte Dame, die offenbar glücklich war, einen imHaus zu haben. »Das Bett!« Es folgten »Blitzableiter, Brezel, Büstenhalter, Dachrinne, Eiskrem, Feuerwehr, Fenster, Handkuß, Heizung, Heftpflaster, Kartoffel, Kerze, Knopf, Löffel, Lyrik …«
    Aber bald fand jemand auch in dieser Suppe ein Haar: »Und was ist mit den zahllosen Kriegs- und Hetzgedichten, dem servilen Herrscherlob, den Hitler- und den Stalin-Oden?«
    »Gute Frage«, sagte Z., »lassen wir also meinetwegen die Lyrik fallen. Weiter mit M!«
    »Mayonnaise, Meditation, Nudel, Papierkorb, Regenschirm, Schachspiel, Scheibenwischer …«
    Der ungewohnte Lärm veranlaßte die Hunde einiger Spaziergänger, um die Wette zu bellen, und ein Polizist, der zufällig vorbeikam, blieb stehen und wunderte sich, als er hörte: »Treppe, Trambahn, Tampon, Taxi, Waffel, Wörterbuch, Wunderkerze, Zahnbürste, Zwiebel …«

164 »Ich glaube, das genügt fürs erste«, sagte Z. Er hätte nur noch ein paar Kleinigkeiten hinzuzufügen. Wer Zahnweh habe, werde der Erfindung der Anästhesie mit Dankbarkeit gedenken. Auf das Wasserklosett dürfte auch der kritische Denker ungern verzichten. Und schließlich sollte sich jeder, der ein Restaurant betrete, an die Französische Revolution erinnern. Sie habe die Hofköche und die Dienstboten des Ancien régime arbeitslos gemacht, so daß sie sich gezwungen sahen, auch den gewöhnlichen Leuten eine anständige Mahlzeit anzubieten.

165 »Grenzt es nicht an ein historisches Wunder, daß es in manchen Regionen, zum Beispiel hierzulande, an Menschen fehlt, ›die stets man noch zum Hungern zwingt‹, wie es in einem Lied aus dem neunzehnten Jahrhundert heißt? Wenn überhaupt, so geschieht das freiwillig, mit Rücksicht auf die Gesundheit und den sogenannten BMI.«
    »Was soll denn das schon wieder heißen?«
    »Den Body Mass Index hat ein Belgier ungefähr zur Zeit der Pariser Kommune erfunden, als auch die Internationale gedichtet wurde. Die Weltgesundheitsorganisation hat diese Meßzahl zur Richtschnur für uns alle erhoben. Wir sollen uns gefälligst gegen Fettsucht, Diabetes und Cellulitis schützen und zu der alten christlichen Technik des Fastens zurückkehren.«
    Angesichts der stattlichen Leibesfülle des Herrn Z. wurde seine Ermahnung kichernd aufgenommen.

166 Einmal verstieg er sich zu der Behauptung, wer bestrebt sei, immer sympathisch zu wirken, sich fortwährend »sozial« zu verhalten, täte besser daran, sich auf seine angeborene Bosheit zu verlassen. Wer einen Gedanken fassen wolle, der sich nicht von selbst verstehe, müsse durch die einsame Schule der Misanthropie gehen.
    »Sie enttäuschen uns«, warf einer unter den Zuhörern ein, »denn nichts anderes haben wir von Ihnen erwartet.«

167 »Früher«, sagte Z., »war oft vom Lumpenproletariat die Rede. Wäre es nicht höchste Zeit, sich zur Abwechslung einmal mit der Lumpenbourgeoisie zu befassen?«

168 »Hat mich hier jemand als Aphoristiker bezeichnet?« Niemand schien bereit, diese Fangfrage zu beantworten.
    »Was soll denn das heißen?« rief er. »Daß ich mit Kalendersprüchen aufwarte, statt mich mit Ihnen zu amüsieren, zu ärgern

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