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Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition)

Titel: Herrn Zetts Betrachtungen, oder Brosamen, die er fallen ließ, aufgelesen von seinen Zuhörern (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hans Magnus Enzensberger
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und zu streiten? Das muß ich nicht auf mir sitzen lassen.«
    Der Philosophiestudent, der das fatale Wort ausgesprochen hatte, trat hervor und sagte: »Warum so verdrießlich? Ich wollte Sie nicht beleidigen.« Z. lachte und gab sich zufrieden.

169 Manchmal zitierte Z. Lewis Carroll,
für den er eine Vorliebe hatte: »Wenn ich ein Wort gebrauche«, sagt der Humpty Dumpty, vulgo der Goggelmoggel, in Alice hinter den Spiegeln, »dann heißt es genaudas, was ich für richtig halte – nicht mehr und nicht weniger … Es fragt sich nur, wer der Stärkere ist.«
    »Stillschweigend teilen die meisten diese Ansicht«, behauptete Z. »Sie geben es nur nicht zu. Jeder glaubt, er könne darüber entscheiden, was die Wörter bedeuten. Das führt, wie bei Carroll nachzulesen ist, meist zu unerquicklichen Auseinandersetzungen, vor allem, aber nicht nur, unter Philosophen. Auch bei Ehepaaren und Politikern kommt es oft zum bloßen Streit um Worte. Ein solcher Zank kann jahrelang dauern, dient aber nur der Eitelkeit und der Unterhaltung, nicht der Erkenntnis. Er kann bis zum handfesten Krach eskalieren, ist aber nicht mit dem Hader zu verwechseln, der sich nicht in Worten äußert, sondern, ähnlich wie der Gram, lautlos nagt und keines Partners bedarf.
    Alice ließ sich von dem dreisten Auftreten Humpty Dumptys nicht anfechten. Weder haderte sie mit ihm, noch grämte sie sich, sondern bewahrte stets ihre tadellos höfliche und unbefangene Miene im Angesicht der Widrigkeiten, die ihr begegneten. Nichtjeder kann ihr in dieser Hinsicht das Wasser reichen.

170 Ein anderes Mal kam Z. auf die Menschenrechte zu sprechen. »Ein ungemütliches Thema«, sagte er. »Wenn man sich darauf einläßt, riskiert man, als Polterer, Spielverderber oder Zyniker dazustehen. Man schrieb, glaube ich, das Jahr 1948, als die Vereinten Nationen in Paris ihre einschlägige Erklärung mit null Gegenstimmen verabschiedet und verkündet haben. Seitdem wurde sie von allen neuen Mitgliedern mit ihrem Beitritt automatisch anerkannt; derzeit gehören dieser Organisation, glaube ich, 193 Staaten an; es können aber jeden Tag ein paar neue dazukommen.
    ›Jeder‹, heißt es, ›hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheiten.‹ Ihr Katalog gleicht einer Wundertüte. Jedem stehen die Freiheit und die Sicherheit der Person zu. Alle dürfen ihre Religion und ihre Überzeugung nach Belieben wechseln. Jeder genießt ein Recht auf Arbeit, auf gerechte und befriedigende Entlohnung, auf Erholung und Freizeit, regelmäßigen bezahlten Urlaub und auf einen Lebensstandard, der ihm und seiner Familie Gesundheit und Wohl gewährleistet, einschließlich Nahrung, Wohnung und ärztlicher Versorgung. Um Sie nicht zu ermüden, begnüge ich mich mit dieser Kurzfassung.
    Zu den Staaten, die dieser Erklärung zugestimmt haben, gehören Nordkorea, der Iran, Somalia, Zimbabwe, der Kongo und der Sudan. Ich kann mir nicht helfen, aber der Widerspruch zwischen Rhetorik und Realität wirkt auf mich in diesem Fall wie blanker Hohn.«

171 »Natürlich«, sagte Z., »braucht jede Nation phantastische Erzählungen, aus denen sie ihre Geschichte montiert. Der zerstörte Tempel, die Jungfrau auf dem Scheiterhaufen, die Schlacht auf dem Amselfeld, der Partisan in den Wäldern – dazu braucht das Kollektiv keinen Romancier. Ohne Rücksicht auf die Tatsachen erfindet sich die Nation, was ihr in den Kram paßt, und glaubt daran. Vergebens versuchen Archäologenund Historiker, sie eines Besseren zu belehren.«

172 »Wie wäre es«, schlug Z. vor, »einen Gedanken an das Wachstum zu wenden? Ein Begriff aus der Naturgeschichte und der Physiologie, wie mir scheint. Man hört dabei geradezu das Gras wachsen oder diese majestätische Buche dort drüben. Diese Gewächse wissen genau, wann es reicht. Das ist bei uns nicht der Fall. Wenn die Wirtschaft stockt, die Zuwachszahlen sinken, herrschen Heulen und Zähneklappern. Man behauptet, die stotternde Maschine müsse unverzüglich angekurbelt werden, so als hätte man es mit einem Automobil aus uralten Zeiten zu tun, dessen Motor nur mit einem schweißtreibenden Werkzeug angelassen werden kann.
    Im Gegensatz zu Politikern und Managern beherrschen Gräser und Bäume mühelos die Exponentialrechnung. Ihr zufolge wären sie nämlich bei einer jährlichen Zunahme von 5 % ziemlich schnell in den Himmel gewachsen. Eine zehn Meter große Buchehätte bei dieser Rate im Alter von hundert Jahren eine Höhe von etwa 640 Metern

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