Herz des Winters (German Edition)
Sie waren geflohen, soweit sie konnten – jetzt standen sie mit dem Rücken zur Wand, und zwar recht wörtlich.
Hier blieb ihnen nichts anderes mehr übrig, als sich zu stellen und zu kämpfen.
Solange sie Techniken vorzeigte, Stellungen korrigierte und Fragen beantwortete, war die Welt erträglich. Das waren Aufgaben, für die sie in der Akademie ausgebildet worden war, ein Leben, das ihr vertraut war. Mit Sikaîl auf der anderen Seite der Halle fühlte sie sich sicher und in alte Zeiten zurück versetzt, auch wenn sie nie gemeinsam regulär trainiert hatten. Sein ruhiger, befehlsgewohnter Tonfall war derselbe, mit dem er ihr in jenen ersten Jahren heimlich Tricks und Schläge für Fortgeschrittene beigebracht hatte, meist versteckt in einem der unzähligen Innenhöfe.
Dann jedoch kam die Mittagszeit, ihre Schüler strebten einer warmen Mahlzeit und den Aufgaben zu, die sie am Nachmittag erwarteten. Bei der unglaublichen Menge an Flüchtlingen und Kämpfern wurde jede helfende Hand gebraucht und jeder Neuankömmling für eine Arbeit eingeteilt. Von der ihren entbunden, kehrte die Realität für Daena zurück, und die Welt zerbrach erneut.
***
Ihr erster Impuls war, sich in ihre Unterkunft zu verkriechen – doch der Schmerz würde ihr unerbittlich nachfolgen. Und da er nicht versuchte, sie aus ihrem brütenden Schweigen zu reißen, ließ sie sich von Sikaîl in Richtung Küche ziehen. Die Portion Eintopf, die er in ihre zitternden Hände drückte, lag ihr allerdings wie ein Stein im Magen, noch ehe sie einen Bissen davon gegessen hatte.
Daenas Misere musste ihr deutlich ins Gesicht geschrieben gestanden haben, denn ihr wichteliger Frühstückskompagnion kam mit gieriger Miene auf sie zu, die zusammengekniffenen Augen auf ihre noch volle Schüssel gerichtet. Der Ausdruck ähnelte in erschreckender Weise dem von Männern, die jemanden als hilfloses Opfer ansahen, über das sie nach Belieben verfügen konnten. Diese Assoziation gab ihr ihre Wut zurück.
Die Schüssel besitzergreifend an sich drückend, bleckte sie ihre Zähne und knurrte. Perplex blieb der Wichtel stehen, kam versuchsweise noch ein paar Schritte näher und ergriff endgültig die Flucht, als sich ihr Knurren nur verstärkte.
„Ich schätze, es ist immer von Vorteil, wenn man jemanden in dessen eigener Sprache beleidigen kann“, grinste Sikaîl.
Daena hob herausfordernd ihr Kinn und steckte sich einen Löffel Eintopf in den Mund. Gleichzeitig mit der Erkenntnis, dass dieser hervorragend schmeckte, wiederholte ihr Bauch ihr Knurren. Von plötzlichem Heißhunger erfüllt, vertilgte sie die Portion in Rekordzeit.
Sie war kein Opfer mehr, und auch wenn Berekhs Verhalten sie verletzt hatte, würde sie alles daran setzen, ihn das nicht merken zu lassen. Sie war eine Kämpferin und es war an der Zeit, dass sie sich auch wieder wie eine benahm.
***
Berekh presste die Finger auf seine brennenden Augen. Er hatte befürchtet, dass das hier schwierig werden würde, aber er hatte die Debattierfreudigkeit und Detailbesessenheit der Arkanen unterschätzt. Ihnen die Schwachpunkte der Morochai und die Kampftaktik gegen sie zu erklären, hatte ganze fünf Minuten mit den Ranghöchsten in Anspruch genommen. Der Anblick des Amulettes jedoch hatte das Lager der Magier in einen aufgeregten Bienenschwarm verwandelt, bei dem ständig noch weitere Gildenmitglieder hinzugezogen wurden. Auch wenn es ein Ding der Unmöglichkeit zu sein schien, platzte das magisch vergrößerte Zelt mittlerweile aus allen Nähten.
Jeder wollte einen Blick auf den Stein werfen, jeder meinte, etwas in den Runen wiederzuerkennen, und jeder beteuerte, dass es garantiert keiner seiner Schüler war, der sie angefertigt hatte.
Er seufzte. Es hatte gute Gründe gegeben, sich von der Gilde abzuwenden, und das hier konnte gut und gerne als Paradebeispiel durchgehen. Wichtigtuer ohne Rückgrat, das waren sie allesamt. Irgendwie sehnte er sich nach seiner Zeit als blanker Schädel zurück. Damals hatte er sich auch so eine engstirnige Denkweise erlauben können.
Schließlich rief Tosalar zur Ruhe auf. „Also gut. Jeder, der das Amulett bereits begutachtet hat und nicht weiß, wer es hergestellt hat – raus! Ratsmitglieder bleiben hier, Yermen. Komm sofort wieder her!“
Berekh nickte dem weißhaarigen Magier dankbar zu. Die Anzahl der angereisten Magier hatte ihn überrascht, doch die beinahe vollzählige Anwesenheit des Rates grenzte an ein Wunder. Niemals hätte er damit gerechnet, dass
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