Herz in Gefahr (German Edition)
Wolkenkolosse schwefelgelb. Über den Wiesen hingen feine Nebelschleier wie Rauch. Der Wind sang heulende Klagelieder, die bis in den letzten Winkel der Burg drangen, und wirbelte den Blumenschmuck der beiden frischen Gräber im wilden Tanz durcheinander.
Helen stand am offenen Fenster ihres Turmzimmers, ließ den Sturm an ihrem Haar zerren und unter den dünnen Stoff des Nachtgewandes fahren.
Es war der Morgen ihres Hochzeitstages, doch die junge Frau gab sich den Urgewalten der Natur hin, als wäre nur das von Interesse. Sie kämpfte mit dem Wind, bot sich ihm dar wie eine Jungfrau sich dem Geliebten in der Hochzeitsnacht darbietet, ließ sich mit harter Hand streicheln, liebkosen und bog ihm ihre zarte Gestalt entgegen. Sie genoss seine Wildheit, seine Unbezähmbarkeit, grüßte ihn als Freund und Verbündeten. Für den Wind hatte sie ihre Lebendigkeit und ihre Leidenschaft bewahrt. Nur ihm vertraute sie sich an, wie sie einst geträumt hatte, sich dem Geliebten anzuvertrauen.
Plötzlich öffnete sich ihre Kammertür und der Durchzug ließ die hölzernen Fensterläden zuschlagen. Erschrocken und ernüchtert wandte Helen sich um.Ihr Vater, Lord Waterhouse, stand in der Kammer und betrachtete sie mit besorgter Miene.
»Es ist bald so weit, mein Kind. Die Näherin ist da, um dir beim Ankleiden zu helfen«, sagte er. Dann trat er zögernd näher und wollte seine Tochter in die Arme nehmen. Doch sie erschien ihm so fremd und so fern, dass er kurz vor ihr auf der Stelle verharrte und lediglich die Hand ausstreckte, um ihr Haar zu berühren. Helen schmiegte für einen Augenblick ihren Kopf in die warme Hand des Vaters. Sie sah ihn an und sagte dann mit leiser, aber fester Stimme:
»Es ist gut, Vater. Ich danke dir.« Mit diesen wenigen Worten nahm sie zugleich endgültig Abschied von ihrer Kindheit.
Der alte Lord verstand, nickte wehmütig und verließ das Zimmer. Wenig später kam die kleine Näherin.
Sie bürstete Helens langes, schweres Haar und kleidete sie in das weiße, ungeschmückte Kleid, das einem Totenhemd so ähnlich sah. Die Näherin holte ein Döschen mit Zinnober hervor, um Helens Wangen und ihre Lippen rot zu färben, doch Helen schüttelte nur stumm den Kopf, und die junge Frau steckte das Döschen wortlos wieder ein.
Als Helen wenig später ohne Schleier und Kopfputz, mit wehenden, dunklen Haaren über dem weißen Kleid und ungeschminkt am Arm ihres Vaters über den Burghof zur Kapelle schritt, in der die Trauung stattfinden sollte, hielten die Bediensteten, die als einzige Zeugen der Feierlichkeit waren, erstaunt den Atem an. Helen erschien ihnen wie ein überirdisches Wesen. Ihre Blässe unterstrich die Zartheit und Verletzlichkeit ihres Gesichts. Elfenhaft, feengleich und zerbrechlich sah sie aus und doch voller Wildheit und Temperament. Sie schüttelte ihr langes Haar, reckte ihren alabasterfarbenen Hals und zeigte einen milchweißen Brustansatz, der von einem dünnen, bläulichen Aderngeflecht durchzogen war. Sie wirkte so rein, so unbefleckt wie die Jungfrau Maria und dabei so erfüllt von allem Wissen dieser Welt und weise wie Salomon.
Sie betraten die Kapelle und der Schimmer der vielen brennenden Kerzen legte sich über Helens Haar wie ein Heiligenschein. Matthew, der vor dem Altar auf seine Braut wartete, wagte kaum, Atem zu holen.
Und als Lord Waterhouse ihm seine geliebte Tochter übergab, fürchtete er sich beinahe davor, sie zu berühren, so unwirklich schön und unnahbar wirkte sie. Sie glich einer Madonna, die man anbeten und betrachten konnte, die aber doch ein Wesen ohne Fleisch und Blut war. Und wenn Matthew versuchte hätte, seinen Empfindungen Worte zu verleihen, so hätte er zugeben müssen, dass er eine unerklärliche Furcht vor dieser Frau verspürte, die in wenigen Minuten die Seine werden sollte.
Pater Gregor, im festlichen Ornat, wartete, bis die beiden ihm ihre Gesichter zugewandt hatten und Ruhe in der Kapelle eingekehrt war. Er sah betrübt aus, denn er hatte die unselige Hochzeit nicht verhindern können. Gregor räusperte sich, dann begann er zu sprechen:
»Im Angesicht Gottes haben wir uns heute hier versammelt, um diese Frau und diesen Mann in heiliger Ehe miteinander zu verbinden. Die Ehe ist ein ehrenwerter Stand, geschaffen von Gott im Paradies zu einer Zeit, da die Menschen noch unschuldig waren.«
Und noch während der Geistliche diese Worte sprach, brach plötzlich wie von Zauberhand durch das einzige Fenster, welches sich hinter dem Altar befand, ein
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