Herzblut - Gegen alle Regeln (German Edition)
Traum. Nach dem Sprung vom Dach hatte ihr Haar wie ein Schwall Blut ausgesehen.
„Bis später“, brummelte ich meiner Schwester zu und verzog mich. Zum ersten Mal seit Monaten war ich erschöpft. Obwohl ich mich ganz sicher nicht erden musste, trugen mich meine Füße zu demselben Baum wie gestern.
Ich lehnte mich gegen den Stamm. Die raue Rinde fühlte sich durch meine Kleidung hindurch kratzig an, sie erinnerte mich daran, dass ich wach war, in der Wirklichkeit. Ich legte den Kopf zurück, sah zu den Ästen hinauf und beobachtete das Spiel von Licht und Schatten über mir, wenn der Wind flüsternd durch die Blätter fuhr. Er flüsterte wie die böse Stimme, die Savannah letzte Nacht im Traum dazu getrieben hatte, vom Dach zu springen.
Ich schloss die Augen und schluckte den Kloß in meiner Kehle hinunter. Wieder sah ich sie in dem Traum, wie sie aufgab und sich hinunterstürzte. Ich sah sie immer wieder fallen. Ich hätte abstumpfen müssen, weil sich die Bilder so oft wiederholten, aber die Schmerzen wurden immer stärker, bis ich am liebsten geschrien hätte.
Das ertrug ich nicht mehr. Ich musste es in Ordnung bringen.
Dafür gab es nur eine Lösung, nur eine Möglichkeit, nicht wahnsinnig zu werden. Ich durfte nicht in ihre Nähe kommen. Ich würde sie beim Mittagessen nicht mehr ansehen. Ich würde sie in Algebra nicht anstarren und nicht reagieren, wenn sie auf dem Flur lachte. Diese verrückten Gefühle, die sie in mir auslöste, waren einfach zu viel. Ab und zu musste ich nach ihr sehen, um sicher zu sein, dass die Talismane sie noch schützten. Aber diese Gefühle durfte ich nicht mehr zulassen.
„Sie ist doch nur ein Mädchen“, sagte ich leise zu den Blättern, zu den Wolken, zu niemandem. „Ein Mädchen. Mehr nicht.“
Savannah
Den ganzen Vormittag über war ich angespannt und rechnete damit, dass ich wieder mit den Jungs aus dem Algebrakurs zusammenstoßen würde. Heute hatte ich zwar keinen Matheunterricht, aber irgendwann würde ich ihnen über den Weg laufen. Ich dachte, ich hätte vor der ersten Stunde einen von ihnen auf dem Flur gesehen. Er hatte mich angesehen und war ein paar Schritte näher gekommen. Dann hatte er die Stirn gerunzelt und war in die entgegengesetzte Richtung abgezogen.
In der Mittagspause war es noch schlimmer.
„Ist alles in Ordnung?“ Anne hatte sich herübergebeugt und flüsterte mir zu, während Michelle und Carrie zusammen Hausaufgaben machten.
„Klar. Wieso?“ Ich versuchte zu lächeln.
Sie zog eine Augenbraue hoch. „Du hast nichts gegessen. Und du bist noch blasser als sonst. Was heißt, dass du heute kreidebleich bist.“
Das falsche Lächeln schenkte ich mir. „Ich bin nur ein bisschen … nervös.“
„Machst du dir Sorgen wegen den Warzengesichtern?“
Warzengesichter? Offensichtlich verwirrt sah ich sie an.
„Du weißt schon, wegen dieser Kröten aus Algebra. Den Spinnern, die dich vor dem Unterricht genervt haben.“
„Ach so. Ja. Glaubst du, sie sind heute wieder so … komisch?“
„Es gibt nur eine Möglichkeit, das rauszufinden: Nach dem Essen gehen wir direkt an ihnen vorbei und sehen mal, wie sie reagieren.“
Mein Magen krampfte sich zusammen. „Vielleicht sollte ich erst mal lieber nicht in ihre Nähe kommen.“
„Warum nicht?“
Ich zögerte. Ich konnte ihr nicht die Wahrheit sagen, zumindest nicht die ganze Wahrheit. Aber solange ich alles für mich behielt, fühlte ich mich an der Schule schrecklich einsam. Gab es nichts, was ich ihr sagen konnte, ohne gegen die Regeln zu verstoßen?
Ich beschloss, das Risiko einzugehen. „Versprich mir, dass dunicht laut lachst.“
Sie nickte.
„Ich glaube, es lag daran, dass … dass ich sie gestern nach dem Mittagessen angesehen habe.“
„Du glaubst, mit einem Blick in die Augen hättest du was mit ihnen gemacht? Sie hypnotisiert oder so was?“
„Na ja … ja.“
Sie kicherte. „Ist klar. Ich mache das auch ständig. Alle Mädchen machen das. Ein Blick in ihre Augen, und schon sind die Jungs wie weggetreten.“
Verärgert vergaß ich, dass ich sie nicht direkt ansehen durfte, und warf ihr einen bösen Blick zu.
Nach einem kurzen Moment schauderte sie und sah weg. „Hm. Na gut, vielleicht hast du recht.“
Ich wusste nicht, ob ich mich über den Sieg freuen sollte oder ob mir übel wurde. Irgendwie hatte ich wirklich gehofft, ich hätte mich gestern getäuscht, und meine Freundinnen würden heute normal reagieren, wenn ich sie ansah. Aber das taten sie nicht. Sie
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