Herzblut - Gegen alle Regeln (German Edition)
alle Bewerberinnen die gleichen Fragen stellten: Ist meine Gruppe jetzt dran? Wie waren die anderen? Bin ich gut genug, um es in die Gruppe zu schaffen?
Nur ich nicht. Mir machten nur zwei Dinge Sorgen: Ich durfte nicht die Schritte vergessen und nicht tanzen wie eine Außerirdische, die sich der Schwerkraft widersetzte.
Endlich holte Amber meine Gruppe ab. Ich schmierte mir noch schnell ein bisschen Vaseline auf die Schneidezähne, wie Captain Kristi uns letzte Woche im Kurs geraten hatte. Durch das scheußliche Zeug mit dem künstlichen Geschmack sollte es uns leichterfallen zu lächeln, auch wenn wir vor Nervosität einen trockenen Mund bekamen. Danach folgte ich Amber und meiner Gruppe die Treppe hinunter.
Meine Beine zitterten so heftig, dass ich stolperte und mich am Handlauf festhalten musste, um nicht zu fallen. Bis zu diesem Moment war mir immer wieder durch den Kopf gegangen: Nicht die Schritte vergessen und nicht tanzen wie ein Freak. Nachdem ich gestolpert war, änderte sich das Mantra zu: Nur nicht beim Vortanzen hinfallen. So etwas kam vor. Eine Bewerberin hatte sich bei ihrem Auftritt langgelegt und war oben sofort auf der Toilette verschwunden. Ein ganzes Bataillon von Freundinnen hatte eine Stunde gebraucht, um das weinende Mädchen herauszulocken.
Dabei hätte es für sie schlimmer kommen können. Sie hätte eine Deckenplatte herunterreißen können, die allen auf den Kopf gefallen wäre. Vor Publikum.
Meine Gruppe durfte sich in der Eingangshalle zwei Minuten lang aufwärmen und dehnen. Ich wollte nur noch in die Halle, um das Vortanzen hinter mich zu bringen.
Ich spürte ein Kribbeln im Nacken, als würde mich jemand beobachten. Spähte vielleicht eine von den Charmers durch die Tür des Theatersaals? Alle anderen in der Eingangshalle hatte ich im Blickfeld, und keine sah mich an. Ich ignorierte das Gefühl. Von einer neugierigen Tänzerin würde ich mich doch nicht nervös machen lassen.
Quietschend öffnete sich die Tür zur Sporthalle. Captain Kristi streckte den Kopf durch und strahlte uns an. „Fertig, Mädels?“
Wir nickten und stellten uns in einer Reihe auf, die Hände auf den Hüften, wie wir es für den Einmarsch gelernt hatten. In meinem Schädel hämmerte es noch heftiger als an dem Tanzabend vor drei Wochen.
Wir stellten uns in der Mitte der riesigen Sporthalle auf und warteten darauf, dass Captain Kristi die Musik einschaltete. Dabei konnte ich mir die Richter näher ansehen, die wenige Meter entfernt an einem Klapptisch saßen. Es waren fünf: zwei Frauen, zwei Männer und Mrs Daniels, die Direktorin der Charmers. Die Direktorin hatte ich dieses Jahr schon oft an ihrem Schreibtisch imBüro der Charmers vor dem Tanzraum gesehen. Die anderen Richter saßen mit ihren Stiften im Anschlag mit ernsten Mienen vor ihren Zetteln. Wahrscheinlich waren sie inzwischen zu müde, um zurückzulächeln. Aus Gewohnheit vermied ich, ihnen direkt in die Augen zu sehen.
Die Musik setzte ein. Wir fingen mit der Jazznummer an, und genau wie am Tanzabend ließ das Adrenalin alles wie einen Traum erscheinen. Bei meinen Sprüngen und Drehungen sah ich mir selbst von außen zu. Ich war mir ziemlich sicher, dass ich nicht übermäßig gut tanzte, aber genau hätte ich es nicht sagen können. Als Vorbild für alle Bewegungen hatte ich die erfahreneren Charmers genommen, nicht die linkischen Mädchen aus dem ersten Jahr, mit denen ich heute in einer Gruppe war.
Das Stück endete, und wir Tänzerinnen verharrten in unserer klassischen Pose, während die Richter Noten auf unseren Bewertungsbögen eintrugen. In der Stille konnte ich den schweren Atem der anderen Mädchen hören. Dabei packte mich die Versuchung.
Unter den Richtern waren zwei Männer. Vielleicht konnte ich mit einem Blick beeinflussen, wie sie meinen Auftritt bewerteten.
Aber damit wäre es nicht mehr um das Tanzen gegangen, oder?
Andererseits hatte Captain Kristi uns im Tanzkurs geraten, Blickkontakt mit dem Publikum herzustellen.
„Bitte Spagat mit linkem Fuß vor“, befahl Kristi.
Mein Körper gehorchte ihren Anweisungen, während ich in Gedanken noch mit mir rang.
Ich durfte die Richter nicht ansehen. Das wäre falsch. Allein schon darüber nachzudenken, war falsch. Mein neuer Blick war nichts, womit ich mir Vorteile verschaffen sollte. Er war ein Fluch, unheimlich und falsch, und ich musste ihn kontrollieren und verbergen.
„Und jetzt bitte mit dem rechten Fuß nach vorn.“
Ich stand auf, streckte das rechte Bein vor
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