Herzen aus Asche
es leugnen zu wollen. Und auch er hatte ihr gesagt, dass er mehr für sie empfand als ein Hausbesitzer für seinen Mieter. Wie konnte das möglich sein, so etwas gab es doch gar nicht?!
Amelie wusste nicht, wie lange sie im Wohnzimmer gestanden und hemmungslos g eheult und geschrien hatte, denn sie verlor das Zeitgefühl. Irgendwann sackte sie zurück aufs Sofa, und eine bleierne Müdigkeit überfiel sie. Sie hatte nächtelang nicht geschlafen, und ihr Körper forderte nach Ruhe. Sie fand keinen Schlaf, schreckte immer wieder auf, um erneut von einem Weinkrampf geschüttelt zu werden. Draußen wurde es bereits dunkel, ehe der Tränenstrom endlich versiegte. Sie lag rücklings auf dem Sofa, ein Arm hing schlaff über die Kante. Ihr Gesicht brannte, ihre Augen fühlten sich geschwollen an. Es war vollkommen still in der Villa, einzig durchbrochen von ihrem unregelmäßigem Atem. Der Laptop hatte sich irgendwann von selbst ausgeschaltet, weil der Akku zur Neige ging. Er lag noch immer aufgeklappt auf dem Boden.
Amelie zuckte zusammen, denn sie vernahm ein al tbekanntes Knistern aus Richtung der Kommode, die neben der Tür stand. Sie drehte den Kopf und beobachtete beinahe gleichmütig, wie eine der Schubladenfronten zerbröselte und als Asche zu Boden fiel. Auch das noch! Amelie sehnte sich in die Zeit zurück, als die verfluchte Villa ihr einziges Problem gewesen war.
»Leif«, schluchzte sie. Seinen Namen auszusprechen, trieb ihr wieder frische Tränen in die Augen.
Sie legte ihren Oberkörper auf die Lehne und vergrub ihr Gesicht in der Armbeuge. Ein Schatten fiel über sie. Etwas verdunkelte die Glühlampe an der Decke, die in diesem Augenblick zu flackern begann. Amelie drehte den Kopf und hätte vor Schreck beinahe geschrien.
»Ich schaffe es anscheinend nicht ein einziges Mal, dir keinen Schock zu ve rsetzen.« Er sprach leise und kraftlos, als quälte ihn eine tiefe Traurigkeit.
Amelie wuchtete ihren Oberkörper in eine aufrechte Position und wischte sich mit dem Ärmel die Tränen aus dem G esicht. »Ich hätte mir denken können, dass du in der Nähe bist. Eine der Schubladen ist soeben zu Asche zerfallen.«
Ein müdes Lächeln huschte über Leifs Züge. »Dann hast du den Zusammenhang a lso verstanden?«
»Nicht direkt. Aber es passiert häufiger, wenn du hier bist. Du bist definitiv ebenso wenig von dieser Welt wie die Möbel.«
»Oh doch, die sind real.«
Sie schwiegen für einen Augenblick, ehe Amelie dem Drang nachgab, sich an seine Schulter zu lehnen. Er legte einen Arm um sie. Wieder sog sie den Geruch seiner feuchten Haare ein - Sommerluft und Salzwasser. Seit sie von seinem Tod im Meer vor Torekov gehört hatte, ergab es plötzlich einen Sinn.
»Wo bist du so lange gewesen? Ich hätte dich g ebraucht.«
Leif seufzte. Er sah ihr nicht in die Augen, sondern starrte auf einen Punkt in der Ferne. »Ich habe lange darüber nachgedacht, ob ich überhaup t jemals wieder herkommen soll. Ich habe schon zu viel Schaden angerichtet.«
»Wenn du davon sprich st, hierher zu kommen: Wo bist du, wenn du nicht hier bist? Und erzähle mir bitte endlich die Wahrheit. Ich weiß, dass du tot bist.« Die Worte klangen seltsam in ihren Ohren. Sie sprach mit einem Toten!
Leifs Blick zuckte zu ihr herüber, in seinen Augen las sie gleichermaßen En tsetzen und Erleichterung. »Die Welt der Geister ist mit dieser nicht zu vergleichen. In der Zwischenwelt gibt es keine Zeit, und es gibt auch keine echten Orte, an die man gehen könnte. Ich habe dort keinen Körper, sondern forme mich und meine Umgebung einzig durch meine Gedanken.«
»Gibt es andere wie dich dort?«
»Es gibt andere Geister, ja. Und man kann sie dort treffen, aber sie meiden mich. Es gibt nicht viele wie mich.«
Amelie konnte selbst kaum glauben, dass sie sich mit Leif so selbstve rständlich darüber unterhielt wie über das Wetter. Aber es machte keinen Sinn mehr, an Dingen zu zweifeln, die jeder vernunftgesteuerte Mensch als Kindermärchen abgetan hätte. Die Dinge waren, wie sie waren.
»Weshalb hast du mir nie die Wahrheit gesagt? Du bist im Meer ertrunken. Riechst du deshalb nach Salzwasser?«
»Vermutlich.« Er strich mit der Hand sanft über ihren Kopf und küsste sie auf die Stirn. »Ich habe ursprünglich nicht einmal beabsichtigt, mich in dich zu verlieben. Ich habe es für das Beste gehalten, dich nicht mit Informati onen zu versorgen.«
»Wie ist es möglich, dass ich dich riechen und fühlen kann? Ich habe bi slang immer
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