Herzen aus Asche
geglaubt, Geister rasseln Nachts mit den Ketten oder lassen Bilder von der Wand fallen.« Amelies Herzschlag beruhigte sich. Sie fühlte sich sicher bei ihm, doch die Erkenntnis, dass er kein Mensch war, schmerzte sie tief in der Seele.
»Vielleicht ist es an der Zeit, dir die ganze Geschichte zu erklären.« Leif fuhr sich mit den Händen durch das hal blange dunkle Haar. Auf Amelie machte er einen äußerst realen Eindruck. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als aus diesem schlechten Traum zu erwachen.
»Ich bitte sogar darum. Du bist es mir schuldig. W egen dir habe ich eine Menge durchmachen müssen.«
Leif holte ein paar Mal tief Luft (mussten Geister e igentlich atmen? Oder war es mehr eine Gewohnheit?). Es schien, als wollte er sich für einen längeren Vortrag sammeln. »Bis zu meinem Tod habe ich selbst nicht an derlei Dinge geglaubt, und auch heute noch erscheinen sie mir unwirklich. Ich habe keine Erklärung dafür, weshalb ich nie wirklich gestorben bin, ich weiß nur, dass nicht alle Toten zu Geistern werden. In der Zwischenwelt nennen sie mich abfällig einen »Draug«. Weißt du, was das ist?«
Amelie schüttelte den Kopf.
»Die Draugar sind nach dem alten germanischen Volksglauben Wiedergänger, die in ihrem Grabhügel umhergehen.«
»Zombies?«
»So in etwa. Das Aussehen eines Draugs richtet sich nach seinem Tod, weshalb ein Ertrunkener triefend nass sein soll. Nun, zumindest meine Haare sind seitdem nie wieder getrocknet.« Er stieß einen Laut aus, das entfernt an ein Lachen erinnerte, jedoch viel zu traurig klang. »Ich denke, die anderen Geister benutzen das Wort als Schimpfname. Es ist nicht gern gesehen, wenn ein Geist sich im Diesseits festkrallt, aber die Trauer um meine Eltern hat mich nie ruhen lassen. Ich weiß nicht einmal, ob ich diese Welt loslassen könnte, selbst wenn ich es wollte. Angeblich kann man diese Art von Geistern beschwören, sie sich sogar Untertan machen. Der Vergleich mit Zombies ist gar nicht so abwegig.«
»Gibt es andere wie dich?« Amelie griff nach seiner Hand, sie verkeilten ihre Finger ineinander. Seine Berü hrung war kühl, spendete aber dennoch Trost.
»Ich kenne zumindest keinen persönlich. Für gewöhnlich können Geister nicht in die Realwelt eingreifen. Ich fühle mich sehr einsam deshalb. Ich habe mich immer danach gesehnt, einen Seher zu finden. Eine zeitlang habe ich geglaubt, es gebe sie gar nicht.«
»Seher?«
»Menschen wie dich. Menschen, die Geister sehen können. Manche haben feinere Antennen als andere. Mich hat nie jemand sehen können außer du. Glaube mir, es sind andere in dieses Haus gekommen. Einbrecher, neugierige Touristen oder tollkühne Jugendliche, die sich ihren Mut beweisen wollten. Keiner hat mich je sehen können. Und niemand konnte meine Nachrichten lesen. Ich habe die Flyer in vielen Briefkästen auftauchen lassen, aber nie hat sich jemand auf meine Annonce gemeldet, weil die Zettel für normale Menschen unsichtbar zu sein scheinen. Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben, bis du mich angerufen hast.«
»Besitzt du überhaupt ein Handy?«
»Nein. Alles Geisterwerk. Und auch die Tatsache, dass deine Freundin Sara nicht mitkommen konnte zur Besichtigung, ist mein Verschulden gewesen. Ich habe das Mobilfunknetz gestört, damit du dich nicht bei ihr melden konntest. Sie hätte mich nicht sehen können, deshalb musstest du unbedingt allein kommen.«
Amelie löste sich aus seiner Umarmung, um ihm in die Augen sehen zu können. Eine Welle aus Mitleid und Liebe überspülte sie. »Was hat das alles mit der zerfalle nden Villa zu tun? Was genau geht hier vor sich?« Sie hauchte die Worte beinahe, denn sie traute ihrer Stimme nicht mehr.
»Ich zahle einen Preis dafür, dass ich meine Gestalt verfestige. Es bedarf Energie dazu, leider entzieht sich auch die Geisterwelt nicht den Gesetzen der Physik. Ich beziehe Energie aus Elektrizität oder Wärme, auch aus der Molekülstruktur von Gegenständen. Deshalb zerfa llen sie alle zu Asche, wenn ich in der Nähe bin. Es ist nichts, wovor man sich fürchten muss, nur ein natürlicher Prozess. Ich trauere lediglich um den Besitz meiner Eltern, wenn sich wieder etwas auflöst. Deshalb vermeide ich es, zu lange hier zu bleiben.«
»Kannst du auch einem Menschen seine Energie en tziehen?« Unmerklich waren ihre Gesichter sich näher gekommen, und Amelie spürte ein wohliges Kribbeln im Magen. Sie sog den Geruch seiner Haare ein und sehnte sich danach, ihn zu berühren - eine
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