Herzenssünde - Silver, E: Herzenssünde
Außerdem wollte sie sich nicht ausschließlich auf Dagan verlassen. Wenn es darum ging, sich zu verteidigen, vertraute sie niemandem als sich selbst.
„Kluges Mädchen“, sagte er und lächelte kurz. „Tust du mir bitte einen Gefallen?“
Sie sah ihn erstaunt an. „Welchen?“
„Nenn mich nicht Krayl. Ich heiße Dagan. Am liebsten wäre es mir, du würdest Dae zu mir sagen.“
Roxy verzog das Gesicht. „Du kannst Miss Tam zu mir sagen.“
Im nächsten Moment schwieg sie, da sie Dagans Anspannung spürte. Er war bereits auf dem Sprung. Die anderen waren da – wer immer sie sein mochten. Roxy hob die Fäuste, in denen sie ihre Messer hielt.
„Die werden dir nicht viel nützen“, merkte Dagan an. „Der Stahl wird sie kaum aufhalten können.“
„Deshalb sind sie auch nicht aus Stahl, sondern aus einer Karbon-Kobalt-Legierung, hart genug, um durch Knochen zu gehen.“
„Auf die Härte kommt es nicht an“, wandte er ein.
Sein leicht spöttischer Unterton kränkte sie. „Das werden wir ja sehen.“
„Was willst du mit Messern gegen Flammen und Rauch ausrichten?“
„Flammen und Rauch? Ist es das, was uns erwartet?“ „Kann gut sein. Still jetzt! Sie sind hier, und sie sind zahlreicher, als ich erwartet hatte.“
Er nahm sie beim Handgelenk und zog Roxy zur Hintertür. „Wenn dir dein Zuhause lieb ist, gehen wir lieber hinaus. Wenn wir hier drinnen auf sie treffen, bleibt von dem ganzen Gebäude nur noch Schutt und Asche übrig.“
Roxy fiel auf, dass es tatsächlich schweflig und verbrannt roch. „Wer sind sie?“
„Xaphans Gespielinnen.“ Dagan öffnete die Tür und ging mit Roxy hinaus. Dort sah sie sich um, konnte aber nichts weiter entdecken als die dunklen Silhouetten der Bäume, deren kahle Äste wie riesige Skeletthände in den Nachthimmel ragten. Sie suchte Deckung, indem sie sich in den Schatten der Veranda duckte. Dagan folgte so dicht an ihrer Seite, dass ihre Arme sich berührten, wobei er sich aufmerksam nach allen Seiten umsah.
„Xaphan?“, flüsterte sie, während sie auf der Veranda, die ums ganze Haus führte, an der Wand entlangschlichen. Sie hatte den Namen schon einmal gehört. Er war im Hinterzimmer von „Tesso’s Bar“ gefallen.
Dagan antwortete dermaßen leise, dass Roxy sich anstrengen musste, um ihn überhaupt zu verstehen. „Der Hüter der Feuer auf den Feuerseen.“
Das war nicht gerade eine erschöpfende Auskunft. Roxy hatte sich in verschiedenen Mythen und Religionen kundig gemacht und auf dem College sogar ein paar Kurse dazu belegt. Bei den Isistöchtern waren die Schulungen für das Fußvolk in diesen Dingen immer sehr spärlich gewesen. Jedenfalls wusste sie, dass es in den verschiedensten Territorien der Unterwelt Feuerseen oder Feuerströme gab. Mit Dagans Antwort war also noch nicht gesagt, wohin Xaphan eigentlich gehörte. Aber das spielte jetzt keine große Rolle. „Und diese Gespielinnen? Wer sind die?“
„Das willst du nicht wirklich wissen.“
Nachdem sie um die Ecke gebogen waren, blieb Roxy wie angewurzelt stehen. Schlagartig war ihr klar, wie Dagan seine letzte Bemerkung gemeint hatte. Sie wollte wirklich nicht wissen, was es mit diesen Gespielinnen auf sich hatte.
Vor ihnen hockte auf dem Geländer der Veranda ein Wesen, das schön und grotesk zugleich war. Ihre Haut schien aus glattem, geschmeidigem Leder von dunkler burgunderroter Farbe zu bestehen, die Farbe, die man bei in der Dunkelheit glühenden Kohlen beobachten kann. Die Beine, auf denen sie hockte, waren kräftig mit schwarzen Krallen am Ende, die sich in das Holz der Verandaeinfassung gruben. Ihr war der kurze schwarze Rock hochgerutscht, sodass dem Blick nichts, aber auch gar nichts verborgen blieb. Das pechschwarze Haar hing dicht und glatt zu beiden Seiten des Gesichts bis auf die Schultern herab. Die Züge dieses schmalen Gesichts waren ebenmäßig, beinahe edel, und ein böses Lächeln entblößte zwei lückenlose Reihen weißer, spitzer Zähne. Eine tödliche Waffe.
Aus der Dunkelheit hinter dieser Kreatur sahen Roxy und Dagan weitere ihrer Art herankommen. Sie alle hatten ihren Blick auf Roxy gerichtet.
„Los, Abgang!“, zischte Dagan ihr zu und deutete auf das Geländer.
Mit einem eleganten Sprung setzte Roxy über die Barriere und landete, perfekt in den Knien federnd wie ein Bodenturner, auf den Füßen. Kaum hatte sie Boden unter den Füßen, begann sie zu laufen, so schnell sie konnte. Mit einem raschen Blick über die Schulter erkannte sie, dass
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