Herzgrab: Thriller (German Edition)

Aber ihr Unterbewusstsein hat die Pforten geschlossen und lässt nichts durch … Wien würde daran nichts ändern « , fügte sie feindselig hinzu.
    Gerink kannte diese Situation von ähnlichen Fällen, die Scatozza und er bearbeitet hatten. Wenn traumatisierte Missbrauchsopfer ihr Gedächtnis verloren, blieben ihre Bewegungsabläufe und motorischen Fähigkeiten erhalten und waren weiterhin abrufbar. Ebenso einige Teile der Erinnerung. Beispielsweise konnten sie historische Ereignisse aufzählen. Darüber hinaus hatte das Unterbewusstsein das eigene biografische Gedächtnis verschlossen und auf Stand-by geschaltet.
    Monicas Körper spannte sich vor Wut an, doch der Anblick ihrer Tante hatte ihr zugleich Tränen in die Augen getrieben. Gerink warf Elena einen kurzen Blick zu. Ihr war dieses scheinbar unbedeutende Detail ebenfalls nicht entgangen. Das Wiedersehen mit ihrer Tante wühlte Sternschnuppe mehr auf als der Tod ihres Vaters. Wie Elena vermutet hatte, blieben Monicas Beweggründe zweifelhaft.
    Gerink ging zu Teresa ans Bett. » Ich darf doch. « Er zog ein Foto aus der Brieftasche und reichte es Teresa. » Mein Kollege und ich sind Ermittler vom Bundeskriminalamt in Wien. Dieses Foto zeigt Sie und Ihre Nichte Monica vor einem Wiener Autohaus. «
    » Wien « , wiederholte sie völlig akzentfrei und griff nach dem Bild.
    Falls Gerink die Reaktion nicht falsch interpretierte, regte sich die Spur einer Erinnerung in ihrem Gesicht. Aber ihre Augen blieben trotzdem skeptisch.
    » Ich komme aus Wien? « , fragte sie wie alles andere, was bisher in diesem Raum gesprochen worden war, auf Deutsch.
    » Tu sei italiana! « , rief Zenobia. Ihre Stimme duldete keinen Widerspruch.
    » Damit ist jetzt Schluss! Ich nehme Teresa mit nach Wien « , sagte Monica drohend leise.
    Zenobia fuhr wie eine Furie herum. » Sie bleibt hier! «
    Gerink sah Monica an, dass sie innerlich wie ein Vulkan brodelte. Äußerlich blieb sie jedoch ruhig. » Teresa hat nach dem Tod ihres Vaters vor fünfzehn Jahren Italien aus gutem Grund verlassen. «
    Zenobias Wangenknochen arbeiteten wie Kolben unter der dünnen Haut. » Angelo hat nichts mit dieser Sache zu tun! «
    » Aber nein « , spie Monica mit einem zynischen Lächeln aus. » Großvater Angelo war ja so ein Engel. Als er angeblich allein im Stall war, das Pferd ausschlug und ihm den Schädel zertrümmerte, hat er endlich seine gerechte Strafe erhalten. «
    » Schweig, dummes Kind! «
    » Glaubst du, ich weiß nicht, dass Angelo jahrelang seine Tochter missbraucht hat? «
    » Sei still, du Missgeburt! «
    » Die Zeiten des Schweigens sind vorbei. « Monica baute sich vor ihrer Großmutter auf. » Deine Tochter hatte nie die Chance, ein normales kleines Mädchen zu sein! Ich lasse nicht zu, dass sie an diesem Ort bleibt, wo sie jahrelang verletzt und erniedrigt wurde von euch Barbaren, Heuchlern und scheinheiligen notgeilen Böcken! «
    » Es reicht! « Zenobia gab ihrer Enkeltochter eine Ohrfeige.
    Monica blieb stehen und zuckte nicht einmal mit der Wimper, als hätte sie nichts anderes erwartet und als hätte diese Reaktion ihre Meinung über ihre Familie bestätigt. Langsam trat sie ans Bett und legte Teresa zärtlich die Hand auf die Wange.
    » Arme Teresa, du hast im Leben so viel mitgemacht. « Monica strich ihrer Tante über die Stirn. » Was geht bloß in deinem Kopf vor? «
    Die ganze Zeit über hatte Teresa wie geistesabwesend auf dem Bett gesessen und das Geschehen um sich herum beobachtet, als beträfe es sie nur indirekt. Das Foto, das Gerink ihr gegeben hatte, glitt ihr aus den Fingern. Plötzlich regte sich etwas in ihrem Blick. Ihre Lippen bewegten sich. Zuerst lautlos, dann hörbar.
    Sie summte etwas – nein, sie sang, ganz leise.
    What’s in your heeeaaaeeed,
    in your heeeaaaeeed,
    zombie, zombie, zombie …ie …ie?
    Gerink kannte dieses Lied. Es war auf der CD mit dem Sprung in der Plastikhülle, die er in Teresas Koffer gefunden hatte. Womöglich war es der letzte Song, den sie gehört hatte, bevor König sie in ihrem Zimmer betäubt und entführt hatte.
    Plötzlich stellte sich Teresas Blick scharf. Entsetzt starrte sie in den Raum. Mit einem Mal lag panische Angst in ihren Augen. Sie tastete mit den Fingern zu ihrem Mund. Ihre Lippen öffneten sich, und ihnen entrang sich ein Wort.
    » Lyashenko … «
    Auch Elena trat nun an ihr Bett. » Sie beginnt, sich an die schreckliche Zeit vor dem Autounfall zu erinnern. « Sie zog die Schublade des Nachtschranks