Heurigenpassion
Madrid. Das anormale Verbraucherverhalten, das Giffen beschreibt, ist aber logisch zu erklären«, stellte die offenbar überaus belesene Kollegin fest, »das Emme’sche Phänomen dagegen nicht. Zumindest nicht in der Realität.«
»Sie haben völlig recht«, gab Palinski zu, »insofern hinkt mein Vergleich. Danke für Ihren Hinweis .«
Er bemerkte mit innerem Lächeln, dass sich viele der Zuhörer gerade in den letzten Minuten eifrig Notizen gemacht hatten. Wenn die alle zu Hause im Lexikon nachsahen oder im Internet »googleten«, wer Giffen gewesen war, dann war der heutige Tag auch aus der Sicht der gehobenen Volksbildung ein beachtlicher Erfolg.
»Damit sind wir aber beim Kern meines Referates gelandet, der Wechselbeziehung zwischen Verbrechen und der einschlägigen Literatur .« Palinski stieg jetzt ein wenig tiefer in die Theorie ein, wollte das Auditorium aber nicht zu sehr damit langweilen. Darum ging er bald zum Fall »Lettenberg« über, den er ziemlich breit und in allen Facetten darlegte.
Nach einer guten Stunde kam er langsam zum Ende. »Dieser Fall ist der erste, der eindeutig dokumentiert, dass die Täterin sowohl den eigentlichen Mord als auch ihr zunächst fast unantastbar scheinendes Alibi aus der Kriminalliteratur übernommen und geschickt für ihre Zwecke verknüpft und modifiziert hat. Nachdem wir ihr Titel und Autoren auf den Kopf zugesagt haben, ist ihre Verteidigungsstrategie zusammen gebrochen. Ich bin damit am Ende meiner Ausführungen und danke für Ihre Aufmerksamkeit. Natürlich stehe ich für Fragen gerne zur Verfügung .«
Das war’s also gewesen und nichts war passiert. Oder doch.
Heftiger Applaus setzte ein und hielt minutenlang an. Schließlich begannen einige Zuhörer sogar aufzustehen und immer mehr Menschen schlossen sich ihnen an. Zuletzt erhob sich sogar der Minister, klatschte, zwinkerte mit den Augen und reckte den Daumen der rechten Hand immer wieder in die Höhe.
Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte. Es war ein riesiger Erfolg und es war Palinskis Erfolg. Auch wenn sich der Minister in der Öffentlichkeit und Schneckenburger insgeheim ein Scheibchen davon abschnitten. Sollten sie doch ruhig.
* * *
Kurz nach Mittag entschloss sich der zuständige Beamte des Bundeskriminalamtes, dem Hinweis auf die Wohnadresse Marinovs nachzugehen. Wegen des akuten Personalmangels wollte er die ersten Erhebungen aber der örtlich zuständigen Polizei überlassen. Sein Gesprächspartner beim Kommissariat Döbling war ein Inspektor Helmut Wallner.
Dem war nach diesem Anruf etwas mulmig im Magen. Dank seiner inoffiziellen »Amtshilfe« für Palinski wusste er ziemlich genau, wo sich das »gesuchte Subjekt« befand beziehungsweise hätte sein Wissen durch einen Anruf rasch aktualisieren können. Er hätte Marinov also innerhalb kürzester Zeit stellen und verhaften können.
Andererseits war er dank Palinski im Besitz von Informationen, nach denen es extrem unwahrscheinlich war, dass der Gesuchte ein Terrorist oder auch nur ein Sympathisant der Szene war. Der Bursche war schlicht und einfach ein Gauner und Steuerhinterzieher, der versuchte, Geld aufzutreiben, um seine entführte Freundin frei zu bekommen.
Genau das war aber der springende Punkt. Einerseits sah der Inspektor keine Gefahr für die Öffentlichkeit durch Marinov. Andererseits war der Mann die einzige Chance, an die Entführer dieser Amelia heran zu kommen. Wallners Entscheidung stand daher fest. Er würde so weitermachen wie bisher und das BKA einfach hinhalten. Das persönliche Risiko, das er damit einging, war ihm natürlich bewusst.
Vor allem aber wusste Wallner inzwischen auch, wer die private Überwachung Marinovs veranlasst hatte. Er konnte zwar nichts mit dem Namen anfangen. Noch nicht. Aber vielleicht wusste ja sein Freund mehr. Er musste jetzt vor allem einmal Palinski erreichen.
* * *
Da sich Wallner auf seinen Drahtseilakt zwischen BKA und Marinov konzentrieren und die aktuellen Entwicklungen des Falles verfolgen musste, hatte es Martin Sandegger übernommen, Hans ›Blacky‹ Schwarzenbach zu verhören.
Gemeinsam mit dem Kollegen Hellmer saß der erfahrene Kriminalist in dem völlig abgeschotteten und streng bewachten Krankenzimmer. Schwarzenbach sah schon wieder viel besser aus, auch sein Arm mit der entzündeten Bisswunde machte keine Probleme mehr. Nach Aussage des behandelnden Arztes konnte der Patient bereits morgen entlassen und damit in die normale Untersuchungshaft
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