Hexe auf leisen Sohlen
Nicholas Blair nachgedacht.
Seit ich heute morgen hier fort fuhr, habe ich mir seinetwegen Sorgen gemacht.«
»Da waren Sie nicht der
einzige«, antwortete er leise. »Auch ich habe mir seinetwegen Sorgen gemacht,
Mr. Boyd.«
»Ich habe über ihn
nachgedacht«, unterrichtete ich ihn. »Nicholas hat in letzter Zeit sehr
angestrengt gearbeitet. Das, was er heute morgen hier zeigte — nun, es könnte
sein, daß er uns nur etwas vormachen wollte, eine Schau aufführte.«
»Hochinteressant«, antwortete
Frazer trocken. »Außerdem noch etwas, Mr. Boyd, da Sie doch den ganzen Tag
nachgedacht haben?«
»Ich möchte ihn gern sehen,
Doktor«, sagte ich, »mich eine Weile mit ihm unterhalten.«
»Das möchte ich auch«, knurrte
er.
»Wie bitte?« Ich starrte ihn
verständnislos an.
Frazer nahm den silbernen
Federhalter von seiner Schreibtischgarnitur, starrte ihn einen Augenblick an,
stieß dann die Feder fest gegen die Schreibtischplatte, so daß sie darin
steckenblieb.
»Mr. Nicholas Blair ist nicht
mehr bei uns«, sagte er mit leiser Stimme. »Er verließ uns, für alle
unerwartet, vor zwei Stunden.«
»Sie haben ihn gehen lassen?«
fragte ich ungläubig.
»O nein.« Er lachte rauh . »Es war gänzlich sein eigener Einfall. Nachdem seine
Frau fort war, beruhigte er sich und schien ganz vernünftig zu sein. Das
erschien mir durchaus logisch. Es war als Reaktion auf den Temperamentsausbruch
am heutigen Morgen nicht anders zu erwarten.«
Er riß die Feder aus der
Tischplatte heraus, studierte sie einen Augenblick und schleuderte sie dann auf
den Boden. »Ich habe mich geirrt, Mr. Boyd. Ich habe mich in grotesker Weise
geirrt. Einer der Wärter brachte ihm sein Abendessen, und Blair griff ihn
brutal an. Von anderem abgesehen, hat der Wärter einen gebrochenen Arm. Blair
sperrte ihn in sein Zimmer ein, lief durch das Sanatorium und zum Haupteingang
hinaus. Dann bemächtigte er sich eines Wagens, der zu dieser Zeit
unglücklicherweise gerade vor der Tür parkte.«
»Soll das heißen, daß
ausgerechnet hier irgendein Narr vor dem Haus den Zündschlüssel in seinem Wagen
stecken ließ?« fragte ich fassungslos.
Frazer erstickte fast an der
Antwort. »Es war mein Wagen.«
»Er kam also ungehindert fort?«
»Das Tor stand offen«, murmelte
er. »Nie, niemals in den fünf Jahren, in denen ich dieses Sanatorium leite, ist
dergleichen schon einmal geschehen. Niemals!«
»Einmal muß alles zum erstenmal
sein.« Ich grinste ihn aufmunternd an. Ich hätte in der Richtung weitergemacht,
sah aber gerade noch rechtzeitig die Mordlust in seinen Augen aufflackern.
Er holte tief Atem. »Lassen Sie
mich etwas sagen, Mr. Boyd«, begann er langsam. »Wenn Ihr Freund Blair hier
heute morgen eine Schau vorgeführt hat, dann ist er der größte Schauspieler,
der je lebte.«
»Aber...«
»Das war keine Schau«, erklärte
er nachdrücklich. »Blair ist ein Wahnsinniger, schlimmer noch, er ist ein
mordwütiger Wahnsinniger. Mit genau diesen Worten habe ich ihn der Polizei
geschildert.«
»Der Polizei?«
»Selbstverständlich mußte ich
sie von seiner Flucht benachrichtigen«, erklärte er scharf. »So zuwider und
ungelegen es mir auch war. Sie können sich vielleicht vorstellen, was es für
einen Mann in meiner Position bedeutet, wenn sein Name in diesem Zusammenhang
an die Öffentlichkeit kommt. Während der letzten Stunde haben nur Reporter und
Zeitungen bei mir angerufen. Ich habe mich geweigert, Auskünfte zu geben oder
jetzt irgend jemanden zu empfangen. Aber der Schaden ist angerichtet.«
»Ich vermute, daß es so oder so
belanglos ist«, sagte ich, »aber auch für mich ist es sinnlos, mich hier länger
aufzuhalten.«
»Was werden Sie tun?« fragte
er.
»Nach Nicholas suchen«,
antwortete ich.
»Darf ich Ihnen einen Rat geben,
Mr. Boyd«, sagte er mühsam. »An Ihrer Stelle wäre ich sehr vorsichtig — falls
Sie ihn finden.«
»Halten Sie ihn wirklich für
gefährlich?«
»Ich weiß, daß er es ist«,
entgegnete er scharf. »Ganz besonders gefährlich soweit Sie und Mrs. Blair
betroffen sind. Sie sind die Leute, die ihn hier hergebracht haben, vergessen
Sie das nicht.«
»Ja«, sagte ich langsam, »ich
werde es bestimmt nicht vergessen.«
Frazer sah mich einen
Augenblick mit ausdruckslosen Augen an. Dann zog er langsam seine Jacke aus. Er
breitete sie sorgfältig vor sich auf dem Schreibtisch aus, strich mit dem
Zeigefinger langsam die Rückennaht hinunter bis zu dem Schlitz am unteren Saum.
Ich sah ihm ebenso
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