Hexenblut
länger auf dem Totenkopf-Thron.«
Sie löste die verschränkten Arme und senkte den Kopf - eine ehrerbietig wirkende Geste. Der Wind zerzauste ihr Haar, und Möwen flogen vor der Sonne vorbei und warfen Schatten auf ihr Gesicht.
»Man hat mich bevollmächtigt, dir den Thron anzubieten«, verkündete sie. Dann blickte sie lächelnd zu ihm auf. »Der Tempel der Luft macht Jagd auf uns.«
Er starrte sie an. »Ist das dein Ernst? Ich war unter den Angreifern.«
Sie trat näher, und er roch frische Seife und weiche Haut. Spürte ihre Körperwärme. »Ach, komm schon, Jer. Wir sind Hexer. So etwas wie Loyalität gibt es für uns nicht. Nur vorurteilsfreies Eigeninteresse.«
»Tja, ich bin nicht interessiert.«
Ein Lächeln umspielte ihre Lippen. Sie hatte Grübchen, wenn sie lächelte. Das war ihm noch nie aufgefallen. »Eli vielleicht schon.«
»Frag ihn. Wenn du ihn findest«, entgegnete Jer. Er fragte sich, ob das von Anfang an Elis Plan gewesen sein könnte. Was Michael wohl empfunden hatte, als er begriff, dass sein Sohn ihn gleich umbringen würde? Zweifellos Stolz auf seinen ältesten Sohn, weil er genauso skrupellos war wie er selbst.
»Vielleicht könnte ich dir das Angebot noch ein bisschen versüßen«, schlug Eve vor und legte eine Hand auf seinen Unterarm. Es schnürte ihm die Brust zu. Niemand berührte ihn mehr.
»Lieber sterbe ich«, sagte er mit fester Stimme und schob sich an ihr vorbei.
»Auch das lässt sich einrichten.« Die Möwen übertönten sie beinahe mit ihrem Gekreische.
Er blieb stehen. »Haben sie solche Angst vor ihr?«
»Und du?«
Er lief weiter. In dem Gasthaus, in dem er abgestiegen war, würde es Tee geben. Und ein Kaminfeuer.
Ihm war kalt.
In der Nähe von Warschau, Polen:
Holly, Alex, Pablo, Armand und der Tempel der Luft
Pablo erholte sich von seinem übersinnlichen Schrecken, und der Tempel der Luft reiste weiter. Alex fragte ihn wiederholt danach, was den Zusammenbruch verursacht hatte, doch Pablo wusste es nicht. Alex warf ihm vor, das sei eine Lüge. Aber weshalb hätte er lügen sollen?
Pablo wusste, dass Holly Cathers sich Sorgen machte. Man brauchte keine übersinnlichen Fähigkeiten, um die Anspannung in ihrem Gesicht zu lesen, die Angst in ihren Augen. Doch da er ihre Gedanken lesen konnte, wusste er, dass diese Sorge nicht ihr selbst galt oder ihm, Armand oder Philippe, nicht einmal Alex Carruthers. Nein, ihre Gedanken kreisten um ihre Cousinen Nicole und Amanda. Sie hatte allen Grund, Angst um die beiden zu haben. Und Pablo hatte allen Grund, sich um Holly zu sorgen.
Die Entscheidung, sich mit Alex und seinem Tempel der Luft zusammenzutun, war ein Fehler gewesen. Armand und er waren mit Holly losgezogen in der Hoffnung, dass sie das Böse bekämpfen und etwas bewirken würden. An manchen Tagen wünschte Pablo, er hätte nie von der Göttin gehört, nie in den Geist eines anderen Menschen schauen können. Er hätte alles darum gegeben, seine Kindheit mit Angeln zu verbringen statt mit Kämpfen.
Doch ihnen standen noch mehr Kämpfe bevor, eine Menge. Als er in dem Hotelzimmer in Köln wieder zu sich gekommen war, hatte er nur noch gewusst, dass er in die Zukunft geschaut hatte. Er konnte sich nicht erinnern, was er gesehen hatte, aber das Ganze machte ihm Angst. Holly hatte ihm erzählt, dass er nach Philippe gerufen habe, aber das wusste er auch nicht mehr. Wie stets in letzter Zeit, wenn Pablo an Philippe dachte, schloss er die Augen und sprach ein kurzes Gebet für das Oberhaupt seines Zirkels.
Er vermisste Philippe, aber noch mehr vermisste er Richard Anderson. Wenn die ganze Welt verrücktspielte, zog Richard sich an einen friedvollen Platz in seinem Geist zurück und durchlebte Erinnerungen an Angelausflüge mit seinem Vater. Richard wusste nichts davon, doch Pablo hatte ihn mehrmals in diese Erinnerungen begleitet, und obwohl er noch nie eine Angelrute in der Hand gehalten hatte, war Angeln jetzt für ihn der Inbegriff von Frieden und Ruhe. Eines Tages werde ich angeln gehen, versprach er sich.
Holly hingegen wollte nur noch eines: ins Bett gehen und dann aus dem Albtraum aufwachen, in dem sie lebte. Seit der Schlacht in London hatte sie das Gefühl, völlig die Kontrolle zu verlieren. Alles, woran sie geglaubt, woran sie sich geklammert hatte, war auf den Kopf gestellt worden. Sie hatte geglaubt, wenn der Kampf in London erst vorüber sei, würden Ruhe und Frieden herrschen und sie und Jer könnten zusammen sein. Nichts davon war
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