Hexenjagd
hoffnungsvoll. „Immerhin kennt sie Sie! Warum versuchen Sie nicht, mit ihr zu sprechen?“
„Wäre im Moment nicht gut“, lehnte Vincent ruhig, aber entschieden ab. „Frau Falquardt hat mich noch nie gemocht und wird wahrscheinlich auch jetzt nicht damit anfangen.“
Das musste man so hinnehmen, dachte der Mediziner für sich, auch wenn das sehr merkwürdig anmutete in Anbetracht der Tatsache, dass sein Gegenüber die angebliche Antipathie seiner zukünftigen Schwägerin nicht übel zu nehmen schien, sondern im Gegenteil mit ehrlicher Anteilnahme und Fürsorge quittierte.
Während sich Vincent verabschiedete, um endlich nach Hause zu fahren und ein paar Stunden zu schlafen, ließ sich die verstörte junge Frau von der Umarmung einer Schwester trösten, welche sie für einen Engel hielt. Selbst als man sie zum Bett zurückdrängte, gehorchte sie wie ein kleines furchtsames Kind, ließ aber die Hand des vermeintlichen Himmelswesens keinen Augenblick los.
„Ich have lost mein Kreuz“, wiederholte sie immer wieder im reinsten Kauderwelsch. Jedes Mal erntete sie verständnislose Blicke. Warum verstand niemand, was sie sagte? Sie begann unvermittelt zu weinen. „Mein Kreuz“, schluchzte sie. „Ich can’t do mein prayer! Nicht without mein Kreuz! God doesn’t hear mich ohne my crucifix!“ Und die Geistererscheinung konnte sie auch nicht abwehren, dachte sie unglücklich. Solange sie kein Kruzifix zur Hand hatte, würde der Geist des Getöteten immer wieder erscheinen, um sie an ihre Gräueltat zu erinnern!
Celia fühlte die streichelnde Hand des Engels auf ihrem Haar und weinte nur noch mehr. Warum verstand man ihren Wunsch nicht? Es musste doch allen hier wichtig sein, dass eine Sünderin bereute und durch Gebete um Gnade bat. Allein deshalb hatte man sie doch in diesen merkwürdigen Raum gebracht – ein Richterzimmer –, in dem entschieden werden sollte, wohin sie am Ende gehen würde: Himmel oder Hölle.
*
Vincents Besuche bei Celiska beschränkten sich alsbald auf die Nachtstunden, weil er sich nur dann sicher sein konnte, sie schlafend vorzufinden und keinen hysterischen Anfall auszulösen. Anfänglich hatte er ganz darauf verzichten wollen, sie zu besuchen, erinnerte er sich. Doch schon am nächsten Tag war er wieder da, weil er zumindest einen heimlichen Blick auf sie werfen wollte. So war es auch diesmal, nur dass er an diesem Abend ein ganz spezielles Geschenk bei sich trug.
Leise, um die Schlafende nicht zu wecken, schlich er auf Zehenspitzen durch den dämmrigen Raum zu ihrem Bett, betrachtete für einen selbstvergessenen Moment ihr entspanntes Gesicht und legte dann die schwere goldene Kette neben ihre Hand, ängstlich darum bemüht, sie ja nicht zu berühren und womöglich aufzuschrecken. Er wandte sich zum Gehen, da wurde ihm bewusst, dass jemand auf der anderen Seite des Krankenlagers auf einem Stuhl saß und ihn aufmerksam betrachtete. Eine ältere Frau, stellte er überrascht fest. Er hatte sie schon einmal gesehen. Aber wo war das gewesen? Es war erst vor kurzem … Ja, natürlich! Celiskas Mutter – die Ähnlichkeit war unverkennbar. Sie war auch im Standesamt gewesen, hatte jedoch mit verkniffenem Gesicht abseits gestanden, ohne von den anderen Hochzeitsgästen beachtet zu werden.
„Kommen Sie mit“, verlangte sie flüsternd, während sie aufstand und mit vorsichtigen Schritten zur Tür ging. „Wer sind Sie?“, wollte sie wissen, sobald sie den Flur betreten und die Zimmertür geschlossen hatten.
„Ich bin Nils’ Bruder“, antwortete Vincent bereitwillig, registrierte das ratlose Stirnrunzeln seiner Gesprächspartnerin und beeilte sich hinzuzufügen: „Celiskas zukünftiger Schwager.“
Frau Falquardt biss sich auf die Unterlippe, musterte ihr Gegenüber schnell von Kopf bis Fuß, machte jedoch keine Anstalten, sich selbst vorzustellen.
„Warum haben Sie das Kruzifix mitgebracht?“, fragte sie stattdessen.
„Eingebung“, erwiderte Vincent wahrheitsgetreu. „Ich habe viel mit verstörten Menschen zu tun und muss mich daher ständig auf die verrücktesten Sachen einstellen. Ich weiß nicht, vielleicht meint sie auch etwas ganz anderes. Es war nur ein kleiner Versuch, ihr eine Freude zu machen.“ Nein, keine Eingebung, stellte er für sich richtig, sondern sicheres Wissen. Er konnte selbst nicht erklären, woher er diese Sicherheit nahm, aber er hatte es fast sofort gewusst. Nur hatte er nicht gleich reagieren können, weil er erst etwas Passendes finden musste. Es
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