Hexenjagd
Notstromgenerator laufen lassen oder aber eine Gaslampe anzünden musste, wenn man den Innenraum beleuchten wollte. In den meisten Fällen jedoch nutzte man den offenen Kamin der Hütte als Heizung und Lichtquelle. Und weil es aus dem Schornstein der Blockhütte qualmte, erübrigte sich jede weitere Überlegung, denn dies war der beste Beweis dafür, dass sich jemand im Innern befinden musste.
Beide Wagen kamen fast gleichzeitig zum Stehen, und auch die beiden Männer sprangen beinahe synchron aus ihren Fahrzeugen und rannten auf die Hütte zu, stockten aber vor der Tür, die sperrangelweit offen stand. Nils betrat den dämmrigen Raum, ohne zu zögern, aber mit einiger Vorsicht. Vincent dagegen schaute sich auf dem Vorplatz der Blockhütte suchend um, entdeckte schließlich einen Frauenschuh, der halb verdeckt unter einem Busch lag, und ging hin, um sich die Sache näher anzusehen. Dort fand er auch Fußspuren, sah nur einige Meter vor sich den zweiten Schuh und überlegte nicht länger, sondern begann zu rennen. Einer Ahnung folgend, schlug er dieselbe Richtung ein, die auch die Flüchtende genommen hatte, und fühlte gleichzeitig seinen Magen zu einem nervös zuckenden Klumpen werden. Von Angst um Celiska getrieben, lief er keuchend durch den Wald, immer darauf bedacht, ihre Spur ja nicht zu verlieren. Dass er mittlerweile vom starken Regen völlig durchnässt war, schien ihm überhaupt nicht bewusst zu sein. Er fror noch nicht einmal. Das feuchte Gesicht immer wieder abwischend, hastete er voran und fiel am Ende beinahe über den liegenden Menschenkörper, der unvermutet vor ihm auftauchte.
Vincent brauchte einen Augenblick, um sich zu sammeln. Dann bückte er sich, hob die Bewusstlose auf und trug sie zur Blockhütte zurück, während seine Augen immer wieder das wachsbleiche Gesicht suchten, auf dem keinerlei Regung zu erkennen war. Das lange Haar klebte in klitschnassen Strähnen an Celiskas Wangen und ihrem schlanken Hals. Blutige Kratzer im Gesicht und Schlammspuren auf ihrer Kleidung wiesen auf etliche Stürze hin. Sie hatte nur ihren Rock und eine dünne Bluse an, stellte er verwundert fest. Und von den hauchzarten Seidenstrümpfen war auch nicht mehr viel übrig. Wo hatte sie ihre Jacke gelassen? Und ihre Handtasche?
Vincents Geist beschäftigte sich mit solch belanglosen Fragen, um der aufsteigenden Panik zu entgehen. Hätte er sich gestattet, intensiver über den Zustand der jungen Frau nachzudenken, wäre er vermutlich explodiert, sobald er seines Bruders ansichtig wurde. Und so übersah er Nils geflissentlich, als er die Hütte betrat. Stattdessen brachte er Celiska zum Kamin, damit sie durch die Hitze des Feuers ein wenig aufgewärmt würde, und fahndete nach einer Decke, um die Besinnungslose darin einzuwickeln und unverzüglich zu einem Arzt zu bringen. Als er jedoch statt der gesuchten Decke einen Mann erblickte, der, aus einer Kopfwunde blutend, auf der Liege saß und vor Schmerz stöhnte, schluckte er erschrocken.
„Mein Gott“, würgte er. „Was ist hier eigentlich los?“
„Sie hat mir den Schürhaken übergezogen“, murmelte der Verletzte sichtlich benommen. „Die ist wirklich irre! Wenn ich das gleich gewusst hätte, hätte ich mich nie dazu üb …“
Weiter kam er nicht, denn Vincent war mit einem einzigen Satz bei ihm und zerrte ihn rücksichtslos auf die Beine.
„Schwein“, zischte er böse. „Du hast es nicht besser verdient! Und jetzt halt gefälligst dein Maul, bevor ich dir auch noch die Zähne rausschlage. Ein Ton“, drohte er, „und du kannst dir ein Gebiss bestellen!“ Nils’ schwacher Versuch, seinem Freund beizustehen, stachelte seinen Zorn nur noch mehr an. „Halt bloß die Klappe“, fuhr er ihn rüde an. „Du hast ebenso viel Schuld wie dieser hirnamputierte Idiot, den du Freund nennst! Ich hab dich gewarnt, aber du wolltest ja nicht hören. Sie war doch vorher schon verstört. Was glaubst du eigentlich, was in einer Frau vorgeht, wenn sie von einem Wildfremden verschleppt wird? Vor allem dann, wenn sie nicht weiß, dass dieser Kerl keineswegs an ihre Wäsche, sondern nur ihren Verlobten foppen will?“ Dass Nils darauf keine Antwort wusste, machte ihn noch wütender. „Du hast doch von der Sache gewusst, nicht wahr? Wie sonst ist es zu erklären, dass deine Freunde einen Schlüssel zur Jagdhütte haben? Was wolltest du ihr beweisen? Wolltest du in ihren Augen als Held dastehen? Der sie aus den Fängen ihrer Entführer rettet, die du ihr vorher auf den
Weitere Kostenlose Bücher