Hexenseelen - Roman
würde er spüren, wie sie geschmunzelt hatte. »Ich weiß, ich bin nicht gerade eine Kreativitätskanone. Aber gute Freunde ruft man nun mal beim Namen.«
Ylva hockte sich auf dem Bett hin, zog ihn näher und begann sein Hemd aufzumachen. Er beugte sich zu ihr.
» My my , was hast du jetzt vor?« Seine Lippen berührten ihren Hals.
Es kitzelte ein wenig, und sie musste kichern. »Bilde dir jetzt nichts ein. Ich will nur dein Hemd richtig zuknöpfen.«
Conrad lachte, genauso melodisch, wie er redete. Dann warf er sie rücklings auf das Bett, und bevor sie
sich’s versah, drückte sein Gewicht sie nieder. Jetzt war er es, der sie eingehend betrachtete, nur nicht mit den Augen, sondern mit Händen und Lippen. Ihren Mund, ihre Nase, ihr Kinn und ihre Wangenknochen - als wollte er sich ihre Züge immer und immer wieder einprägen.
Ylva umarmte ihn. Ja, sie würde ihn jetzt so unglaublich gern lieben und von ihm geliebt werden. Aber ihn auch verstehen, zum Beispiel, was es hieß, so lange zu leben und noch so lange leben zu müssen. Sich das vorzustellen war für sie, das Rattenmädchen ohne Vergangenheit, eine Sache der Unmöglichkeit.
Mit den Fingern zeichnete sie die weichen Linien seines Gesichts nach. »Bist du adelig?« So wie er sich gab oder redete, konnte er durchaus der feinen Gesellschaft angehört haben.
Seine Augenbraue zuckte spöttisch. »Jetzt sag nicht, du bist mit mir zusammen, nur um in die englische Aristokratie aufzusteigen.«
»Rede kein dummes Zeug. Ich würde einfach gern mehr über dich erfahren, was du die letzten zwei Jahrhunderte gemacht hast.«
»Nichts, worauf ich stolz gewesen wäre.« Sein Mund bildete eine harte, abweisende Linie.
Ylva strich über seine Lippen, haderte mit sich selbst, ob sie die nächste Frage stellen durfte, die ihr schon so lange nicht aus dem Sinn ging: »Warum konntest du früher keine Berührungen ertragen? Da ist irgendetwas passiert, nicht wahr? In deiner Kindheit.«
Conrad rollte sich auf den Rücken und verschränkte
die Arme hinter dem Kopf. Schon tat es Ylva leid, es angesprochen zu haben. Sie stützte sich auf einen Ellbogen, bereit, um Verzeihung zu bitten, als er sagte: »Es geht um meinen …« Er sprach das Wort nicht aus. Er konnte es nicht.
»Vater?«
Conrad nickte.
»Hat er dich misshandelt?«
»Nein.«
Er schwieg. Ylva auch.
Sie wollte ihm versichern, er müsse nicht weiter erzählen, wenn er es nicht mochte, doch Conrad fuhr bereits fort, mit dumpfer, unsicherer Stimme: »Um deine erste Frage zu beantworten: Nein, ich bin nicht adelig. Ich habe mir Manieren angeeignet, um zu vergessen, woher ich stamme. Wer ich überhaupt bin. In Wirklichkeit waren die tiefsten Slums Londons meine Heimat.« Mit jedem Laut wurde sein Akzent deutlicher, bis sie seine Art zu reden kaum wiedererkennen konnte. »Mein … Vater … wollte schon immer einen Sohn haben. Meine Mutter hat ihm zuerst eine Tochter geboren, ehe ich dann ein paar Jahre später folgte. Zwölf Jahre lang musste ich mitansehen, wie er die beiden schlug und missbrauchte, ohne etwas dagegen unternehmen zu können. An mich hat er niemals Hand angelegt, zumindest nicht auf diese Weise.« Conrad stockte und verzog das Gesicht. »Insgeheim wünschte ich mir, er hätte mich ebenfalls regelmäßig verprügelt, denn so … so fühlte ich mich schuldig. Wie sein Komplize. Verstehst du?«
Ja, das tat sie. Ylva fuhr ihm sanft durch das Haar, doch er schob ihre Hand beiseite. »Dieses Arschloch hat meine Schwester umgebracht«, stieß er hervor. »Er hat sie … totgevögelt, direkt vor meinen Augen. Und was habe ich gemacht? Ich bin feige weggelaufen. Ich habe meine Mutter mit ihm allein zurückgelassen, wohl wissend, was er mit ihr dafür anstellen würde.«
Ylva schluckte. »Was hättest du denn tun sollen? Du warst erst zwölf! Du hättest unmöglich einem erwachsenen Mann die Stirn bieten können!«
»Mag sein. Aber ich habe es nicht einmal versucht, und dafür habe ich mich den Rest meines damaligen Lebens gehasst. Und nicht nur mich, sondern die ganze Welt, in der so etwas geschehen konnte, all die Menschen, die wie ich zugesehen, aber nie eingegriffen hatten. Als mein Fluch sich endlich erfüllte, war ich froh darüber. Es war eine lange und schwere Krankheit, die bei mir nicht wie gewöhnliche Cholera verlief. Das ist oft so bei uns Verfluchten. Ich habe Menschen mit der Seuche angesteckt, als ich noch gar nicht wusste, dass ich sie in mir trug. Anfang 1832, als die Symptome auch
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