Hexenseelen - Roman
wuselten in der Nähe. Und es roch nach Menschen, vielen Menschen, die hin und her gegangen waren.
Ylva rieb sich die Augen. Langsam kehrte ihre Sehkraft zurück, erlangte jedoch nicht die gewohnte Stärke. Über sich erkannte sie große, fleischige Blätter eines Baumes. Und ein Glasdach. Was für ein seltsamer, fremdartiger Ort! Wie war sie bloß hierhergekommen? Ihr Magen
verkrampfte sich. Was, wenn in Wirklichkeit nicht eine Nacht, sondern mehrere Jahre vergangen waren, wenn ihr schon wieder Erinnerungen an alles, was in der Zwischenzeit geschehen war, fehlten?
Nein. Nicht daran denken - einfach weitermachen. Wie mit dem Atmen: ganz natürlich, reflexartig. Irgendwie würde sich schon alles aufklären. Bloß nicht in Panik verfallen. Es ging ihr gut, und sie lebte noch, mehr sollte sie zu Anfang nicht verlangen.
Ylva schob alle Zweifel beiseite. Sie fühlte sich gut erholt, sprühte buchstäblich vor Energie, und wenn ihre Muskeln nicht so höllisch wehgetan hätten, wäre sie sofort auf die Beine gesprungen. Doch sie ließ es bleiben und verweilte lieber weiterhin auf dem Boden. Außerdem wollte sie versuchen, das sorglose Gefühl zurückzubekommen, mit dem sie aufgewacht war. Das Gefühl, das sie an die glücklichen Tage mit ihrem Paps erinnerte, als sie beide noch nicht fliehen mussten und alles so … normal … war. Ihre Hand fand beinahe selbstständig den Weg unter ihren Pullover und erinnerte sie, dass nichts normal war oder es je sein würde.
Nicht daran denken! , mahnte sie sich. Nicht jetzt. Ylva rollte sich zusammen und schmiegte ihre Wange an die Lederjacke unter ihrem Kopf. Wie schön - nur dazuliegen und sich zu entspannen, ohne bangen, fliehen oder kämpfen zu müssen.
Ihr Ohr zuckte, als sie ein Rascheln und Schritte vernahm, die sich näherten. Ylva erstarrte, zur Flucht bereit.
Aus dem Halbdunkel schälte sich eine Silhouette, und
der Hauch des Todes, der plötzlich alles einzunehmen schien, bescherte ihr Gänsehaut. Es gelang ihr nur mit Mühe, ein Zittern zu unterdrücken. Ohne sich zu bewegen, schnupperte Ylva, um ihren Gegner zu identifizieren, erfasste allerdings überhaupt keinen Geruch. Als würde er mit seiner Umgebung verschmelzen. Ein Totenküsser? Keine Zweifel. Sie befand sich in der Reichweite ihres Feindes, mit dessen Kräften sie sich nicht messen konnte.
Lauf fort, fort, fort … Ihr Herz schien die Worte im Morse-Tempo in ihr Hirn zu klopfen. Fast wie ein SOS. Aber sie hörte nicht auf ihr Herz.
Wer wusste schon, ob sie schnell genug war, um ihm zu entkommen? Und wohin sollte sie überhaupt fliehen, ohne das Gelände zu kennen? Also beschloss sie, sich ruhig zu verhalten und erst einmal ihren Feind zu beobachten.
Doch sein Verhalten war mehr als seltsam: Er setzte sich auf einen Stein, mit dem Rücken zu ihr, und sagte im Plauderton: »Na, mal schauen, was wir da haben. Willst du das hier?«
Diese leise, sonore Stimme kannte sie doch! Conrad. Verdammt, ausgerechnet er. Der Mann, der versucht hatte, sie umzubringen. Der Schreck, den er ihr mit seinem Kuss eingejagt hatte, saß tief und ließ sie erschaudern. Sollte sie sich vielleicht tot stellen? Oder ihm antworten, auch wenn sie keine Ahnung hatte, was er von ihr wollte?
Noch bevor sie einen Ton herausbringen konnte, streckte er einen Arm zur Seite. Zu seinen Füßen entdeckte
Ylva ihre Ratte. Der Nager erhob sich auf die Hinterbeine und schnupperte, dann wandte er den Kopf ab.
»Hm, ich nehme an, Fenchel ist nicht dein Fall, was? Das ist mehr als nachvollziehbar. Aber immerhin besser als eingelegte Rote Bete, yuk !«
Ylva presste sich eine Hand auf den Mund, um ein Lachen zu unterdrücken. Wo sie einfach »igitt« gesagt hätte, verwendete er dieses komische »yuk«. Überhaupt redete er anders als alle, mit denen sie es bisher zu tun gehabt hatte: Seine A-Laute klangen etwas tiefer, wodurch seine Stimme etwas Beruhigendes erhielt. Vermutlich, um die Opfer einzulullen, von seiner Harmlosigkeit zu überzeugen.
»Wie wäre es mit einem Apfel?« Erneut streckte er den Arm aus. Die Ratte machte einen vorsichtigen Hüpfer auf die Hand zu, nahm aber nichts an, sondern wartete, bis Conrad das Stück auf die Erde gelegt hatte. Das Tier nagte ein wenig daran und huschte dann wie ertappt zurück.
»Ach, komm schon. Dir zuliebe habe ich den Fressnapf einer Schildkröte geplündert, und du verschmähst meine Gaben? Das ist nicht nett. Wage es nicht, mir in zehn Minuten vorzujammern, du hättest Hunger. Entweder du isst
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