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Hexenstunde

Hexenstunde

Titel: Hexenstunde Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Rice
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Kleid mit steifgestärktem weißen Kragen und einer Haube.
    In besänftigendem Ton versuchte ich ihr auf Englisch zu erklären, daß sie bei mir sicher sei und daß ich sie an einen Ort bringen wolle, wo niemand sie der Hexerei bezichtigen würde, daß aber diejenigen, die über ihre Mutter hergefallen seien, selber böse und grausam wären.
    Sie gab keine Antwort, aber mir schien, daß ihr Gesicht seinen furchtbaren Ausdruck verlor, als hätten meine Worte ihren Zorn schmelzen lassen. Ratlosigkeit trat in ihren Blick.
    Ich erzählte ihr, daß ich zu einem Orden guter Menschen gehörte, der die alten Heilkundigen nicht verletzen oder verbrennen wolle. Ich wolle sie in unser Mutterhaus bringen, wo der Irrglaube, dem die Hexenjäger anhingen, verachtet werde. »Und es ist nicht in der Schweiz, wie ich den bösen Leuten in deinem Dorf erzählt habe«, sagte ich, »sondern in Amsterdam. Hast du je von dieser Stadt gehört? Es ist ein großartiger Ort, fürwahr!«
    Da schien von neuem die Kälte über sie zu kommen. Ohne Zweifel verstand sie, was ich sagte. Sie sah mich mit leiser, höhnischer Verachtung an, und ich hörte, wie sie auf englisch bei sich wisperte: »Du bist kein Kirchenmann! Du bist ein Lügner!«
    Den ganzen nächsten Tag sprach sie nicht mit mir, und am nächsten Abend war es genauso, wenngleich sie jetzt ohne meine Hilfe aß, und zwar gut, fand ich; anscheinend gewann sie an Kraft.
    In London angekommen, erwachte ich in der Nacht, weil ich sie sprechen hörte. Ich rappelte mich von meiner Strohschütte auf und sah, wie sie zum Fenster hinausschaute, und dabei hörte ich sie auf Englisch – mit starkem schottischen Akzent – sagen: »Geh weg von mir, Teufel. Ich will dich nicht mehr sehen.«
    Als sie sich umdrehte, blinkten Tränen in ihren Augen. Mehr denn je erschien sie mir wie eine Frau, als sie so vor mir aufragte, den Rücken zum Fenster gewandt, und das Licht von meinem Kerzenstumpf ihr Gesicht erhellte. Sie sah mich ohne Überraschung an und mit der gleichen Kälte, die sie mir schon früher gezeigt hatte. Gleich legte sie sich hin und wandte das Gesicht zur Wand.
    »Aber mit wem hast du gesprochen?« wollte ich wissen. Sie gab keine Antwort. Ich setzte mich im Dunkeln hin und sprach zu ihr, ohne zu wissen, ob sie mich hörte oder nicht. Wenn sie da etwas gesehen habe, sagte ich, ein Gespenst oder einen Geist, dann müsse das nicht gleich der Teufel gewesen sein. Wer wollte sagen, was diese unsichtbaren Wesen seien? Ich bat sie, mir von ihrer Mutter zu erzählen und mir zu berichten, womit sie sich den Vorwurf der Hexerei zugezogen habe – denn inzwischen war ich sicher, daß sie selbst über gewisse Fähigkeiten verfügte und daß ihre Mutter sie ebenfalls besessen hatte. Aber sie wollte nichts sagen.
    Ich ging mit ihr zu einem Badehaus und kaufte ihr auch ein zweites Kleid. Aber diese Dinge fanden kein Interesse bei ihr. Die Menschenmassen und die vorüberrollenden Kutschen sah sie mit kaltem Blick. Und da ich es eilig hatte, von hier fort und nach Hause zu kommen, entledigte ich mich meines schwarzen Priesterkleides und legte die Gewänder eines holländischen Herrn an, denn mit ihnen konnte ich am ehesten Achtung und gute Behandlung erwarten.
    Aber diese Wandlung meiner selbst verschaffte ihr irgendeine finstere, heimliche Belustigung, und wieder musterte sie mich höhnisch, als wolle sie sagen, sie wisse schon, daß ich irgendwelche schmutzigen Ziele verfolgte, wiewohl ich jetzt ebenso wenig wie vorher irgend etwas tat, was sie in diesem Argwohn hätte bestärken können. Oder konnte sie meine Gedanken lesen, fragte ich mich, und wußte sie, daß ich in jedem Augenblick, den ich nicht schlafend verbrachte, daran dachte, wie es gewesen war, als ich sie gebadet hatte? Ich hoffte, daß dem nicht so war.
    Sie sah so hübsch aus in ihrem neuen Kleid, dachte ich bei mir – keine junge Frau hatte ich je gesehen, die hübscher gewesen wäre. Weil sie es nicht hatte tun wollen, hatte ich einen Teil ihres Haars zu einem Zopf geflochten und ihn oben um den Kopf geschlungen, damit ihr die langen Locken nicht ins Gesicht fielen; so hatte ich es bei anderen Frauen gesehen, und – oh – sie war bildschön.
    Und so reisten wir weiter nach Amsterdam, sie und ich, und taten so, als seien wir ein reiches holländisches Geschwisterpaar, wenn es jemand wissen wollte. Und wie ich mir erhofft und erträumt hatte, erweckte unsere Stadt sie aus ihrer Stumpfheit: Mit neuerwachter Kraft betrachtete sie die

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