Hexenzorn
Gletscherwelt zuvor, aber ein Januarmorgen in der Bucht von San Francisco war immer noch alles andere als mild. Sie waren beide niedergeschlagen, sie froren, hatten Hunger und waren noch völlig aufgewühlt von den letzten Stunden. Auf der Rückfahrt über die Bucht sprachen sie kein Wort. Als sie am Pier ankamen, bat Marla B. sogar, ihnen ein Taxi zu rufen. Sie fuhren zum Hotel, und Marlas Hunger kämpfte mit ihren Sorgen um die Vorherrschaft über ihre Gedanken. Sie gingen ins Hotelrestaurant, wo gerade der Brunch serviert wurde, und fraßen sich voll. Als sie mit dem Essen fertig waren, nahmen sie den Aufzug anstelle der Treppe.
Rondeau war nicht da, und sie fand auch keine Nachricht. »Vielleicht ist er woanders frühstücken gegangen«, sagte B. mit wenig Überzeugung in der Stimme.
»Er ist zwar unzuverlässig, aber er weiß, was geht und was nicht«, sagte Marla. »Außerdem ist das Bett gemacht, und es ist noch zu früh, als dass der Zimmerservice schon hier gewesen sein könnte. Rondeau macht sein Bett nie, was bedeutet, dass er nicht hier geschlafen hat.« Vielleicht hatte er aber tatsächlich über die Stränge geschlagen und die Nacht mit Zara verbracht. Doch Marla hatte ihm gesagt, er solle zurück ins Hotelzimmer gehen, und sie hatte es ernst gemeint. Sie glaubte nicht, dass er sich dem widersetzt hätte, wenn er nicht dazu gezwungen gewesen wäre.
Sie checkte ihre Mailbox auf dem Handy, aber sie hatte keine Nachrichten. Vielleicht hatte ja die Tatsache, dass sie und das Handy die Nacht in den unterschiedlichsten Universen verbracht hatten, etwas damit zu tun. Dann sah sie, dass das Lämpchen am Telefon neben dem Bett blinkte.
»Anscheinend hat jemand im Hotel angerufen«, sagte sie und drückte auf den Knopf.
Die erste Nachricht war von heute Früh, nur ein paar Stunden alt. Es war der Chinese, der mit der süßen, gestohlenen Stimme seiner Schülerin sprach: »Kommen Sie heute zu meinem Laden, um drei Uhr. Bringen Sie Ch’ang Hao mit, natürlich gebannt, dann bekommen Sie Ihren Speichellecker Rondeau wieder. Und dann werden wir uns über die Entschädigung dafür unterhalten, dass Sie meinen Ruf und meinen Laden ruiniert haben.«
Marla fluchte, dann begann die nächste Nachricht. Es war ihr Consigliere Hamil: »Marla, ich versuche seit Stunden, dich zu erreichen. Ich habe gerade Nachricht von einem meiner Spione erhalten - Susan wird heute Nacht mit dem Ritual beginnen. Wenn du den Grenzstein nicht jetzt oder zumindest bald findest, ist es zu spät.«
Das waren schlechte Nachrichten, aber es hätte noch schlimmer kommen können. Heute Nachmittag würde Marla sich um Mutex kümmern müssen, und die Dinge würden, mit welchem Ausgang auch immer, zu einem Ende kommen. Entweder sie bekam den Grenzstein, oder sie würde sterben. Falls sie den Grenzstein bekam, wäre Susans Zauber kein Problem mehr. Falls Sie starb, naja, dann wäre Susans Zauber auch kein Problem mehr.
Dann teilte die elektronische Stimme des Anrufbeantworters Marla Datum und Zeit von Hamils Anruf mit. Seine Nachricht war vor der des Chinesen eingegangen. Hamil hatte gestern angerufen, nachmittags, als sie mit B. in einer anderen Welt gewesen war.
Was bedeutete, dass Susan den Zauber, mit dem sie Marlas Stadt übernehmen wollte, letzte Nacht in Kraft gesetzt hatte,
während Marla in einem anderen Universum gestrandet gewesen war.
Marla begann laut zu lachen.
17
»Was gibt’s denn für Neuigkeiten?«, fragte B.
Marla zögerte keine Sekunde. B. hatte sich in zwei Tagen so gut bewährt, wie es überhaupt möglich war. »Die schlechte Nachricht ist, dass der Chinese Rondeau hat. Ich soll mich heute um drei Uhr mit ihm treffen und eine Übergabe aushandeln oder, wohl eher, ihm in die Falle gehen.«
»Drei Uhr. Das ist dieselbe Zeit, zu der Mutex Ihnen in die Falle gehen soll.«
»Ich sehe, Sie haben aufmerksam zugehört.«
»Und was ist die gute Nachricht? Oder handelt es sich um eine schlechte und eine noch schlechtere Nachricht?«
»Es ist eine zumindest vorerst gute Nachricht. Mir wurde ein Hinrichtungsaufschub gewährt.« Marla war zumindest leicht amüsiert, als sie sich vorstellte, wie Susans Tag heute wohl aussah: Zuerst überprüfte sie ihre Zauber, die fehlerlos waren; dann überprüfte sie die Zutaten und befand sie
für gut; doch schließlich verfiel sie in eine nachdenkliche Depression über die große, ungreifbare Kraft hinter aller Magie - angefangen vom kleinsten Trick, mit dem man sich eine Zigarette
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