Hexenzorn
Mutex kümmern, deswegen habe ich einen Freund losgeschickt, um Rondeau zu retten. Wenn alles gut gelaufen ist, hat er den Chinesen wahrscheinlich umgebracht.«
»Nein«, sagte Ch’ang Hao. »Mein einstiger Peiniger ist noch am Leben. Wäre er tot, würde ich es erfahren.«
Marla schwieg eine ganze Weile. »Verdammt«, sagte sie schließlich. »Gottverdammte Scheiße, das heißt, dass B. gescheitert ist, was wiederum bedeutet, dass er und Rondeau höchstwahrscheinlich tot sind.«
»Ich bedaure Ihren Verlust«, sagte Cole.
»Rondeau schien ein ehrbarer Mann zu sein«, murmelte Ch’ang Hao.
»Ja«, sagte Marla. Doch es war mehr als nur ein persönlicher Verlust. B. hatte Marla erklärt, wie wichtig Rondeau für das Gelingen dieser Sache war und dass ohne ihn eine Niederlage unvermeidbar wäre. Wenn es jemals für sie an der Zeit gewesen war aufzugeben, dann jetzt.
Nein. Die Zukunft war nicht festgelegt. Es gab Wahrscheinlichkeiten, ja, und vielleicht standen ihre Chancen ohne Rondeau astronomisch schlecht, aber das hieß noch lange nicht, dass sie aufgeben würde. Wenn in einem Casino nur ein Spiel angeboten wurde, dann spielte man eben dieses eine Spiel, auch wenn die Chancen schlecht standen. »Auch ich bedaure es. Aber wissen Sie, wem es bald noch viel mehr leidtun wird? Mutex. Hätte ich mich nicht um ihn kümmern müssen, hätte ich Rondeau retten können. Und wenn ich Mutex erst mal in eine Blutlache verwandelt habe, werde ich dir helfen, Ch’ang Hao, und wir werden den Chinesen gemeinsam umbringen. Das heißt, wenn das für dich in Ordnung geht.«
»Ich respektiere Euren Wunsch nach Rache«, sagte Ch’ang Hao, »und Eure Hilfe sei mir willkommen. Er ist unser beider Feind. Die Dinge, die zwischen uns noch anstehen, sollen einstweilen ruhen. Vielerlei erfordert noch meine Aufmerksamkeit, bevor ich Zeit haben werde, meine Angelegenheit mit Euch zu Ende zu bringen. Es ist mein Wunsch, den Dschungel im Süden zu besuchen, wo meine Kinder mit den Bäumen sterben. Ich hoffe, ich kann ihre missliche Lage lindern. Ich werde mehrere Jahre fort sein, und vielleicht sterbt Ihr, während ich noch mit anderen Dingen beschäftigt bin. Doch falls Ihr noch leben solltet …
Ich werde Euch nicht vergessen, und wir werden uns wiedersehen, wenn all dies vorüber ist.«
»Ich werde die Tage bis dahin zählen«, sagte Marla. »Aber jetzt muss ich Mutex aufhalten. Ich habe leider keine Zeit, dich irgendwo abzusetzen, Ch’ang Hao, also wirst du mitkommen müssen. Ich erwarte nicht, dass du an meiner Seite kämpfst, aber falls du dich ein bisschen abreagieren willst, nur zu!«
»Vielleicht«, sagte Ch’ang Hao. »Wohin fahren wir?«
»In den Park, auf einen kleinen Spaziergang«, antwortete Cole.
B. hatte keinerlei Probleme, den Eingang zum Laden des Himmlischen zu finden. Auch die golden schimmernden Fäden, die sich auf Brusthöhe quer über den Eingang spannten, sah er sofort, wobei er das Gefühl hatte, dass sie eigentlich unsichtbar sein sollten. Doch B. sah Dinge wie diese, und das immer öfter, denn anscheinend profitierten seine Geisteraugen davon, dass er sie so häufig benutzte, und wurden von Stunde zu Stunde schärfer. Es war befremdend: Die versteckten Winkel und dunklen Schatten um ihn herum schienen zunehmend von immer neuen Möglichkeiten und Geistern bevölkert, und B. konnte sie alle sehen, wie sie mit ihren zerzausten Schwingen gegen die dünne Membran schlugen, die diese Welt vor der dahinterliegenden trennte. Er konnte sie zu einem gewissen Grad ausblenden, sie in den Hintergrund seines Bewusstseins verdrängen, aber nie verschwanden sie ganz. Sein ganzes Leben ähnelte mehr und mehr einem dieser Träume, es war voller Geheimnisse am Rande seines Gesichtsfeldes und unheilverkündender Andeutungen. In gewisser Weise war es sogar eine Erleichterung,
so voll und ganz in dieser unheimlichen Welt aufzugehen, und er hatte nicht länger das Gefühl, er stünde ständig am Rand eines Nervenzusammenbruchs. Beinahe fühlte er sich sogar, als gehöre er wieder irgendwohin. Doch nichts von alledem konnte seine Stimmung aufhellen, jetzt, da er kurz davor war, die Behausung eines Magiers zu betreten, in der Absicht, ihn zu töten.
Er duckte sich unter den goldenen Fäden hindurch, um nicht irgendeine Falle auszulösen oder seine Ankunft anzukündigen, und schlich sich, so leise er konnte, in den Laden. Das Innere war noch genauso verwüstet wie zuvor, aber es war niemand da, zumindest nicht im vorderen Raum.
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