Hexer-Edition 08: Engel des Bösen
den letzten Tagen getötet hatte, aber er spürte, wie die animalischen Instinkte des kleinen Raubtieres den suggestiven Bann mehr und mehr zu überwinden begannen. Das Tier war hungrig – und es witterte sein Blut!
Millimeter für Millimeter kam die Ratte näher. Ihre spitze Schnauze näherte sich seinem Gesicht und berührte seine Haut, fuhr schnüffelnd über seine Stirn, dicht an seinem linken Auge entlang und die Wange hinab. Howard ballte die Faust und machte sich zum Zuschlagen bereit.
Plötzlich prallte die Ratte zurück. Ein schrilles, fast ängstliches Quieken drang aus ihrem Maul. Rücklings und mit fast grotesken Sprüngen wich sie vor ihm davon, bis sie gegen die Wand prallte, setzte sich auf die Hinterläufe und begann sich mit den Vorderpfoten über die Schnauze zu fahren, immer und immer wieder. Ein einzelner Blutstropfen glitzerte an ihrem Maul.
Howard setzte sich verwirrt auf. Im ersten Moment glaubte er, das Tier hätte sich verletzt, aber im gleichen Augenblick, in dem er sich bewegte, fuhren auch die anderen Ratten mit einem fast ängstlichen Pfeifen zurück und rannten aus der Zelle.
Verwirrt betrachtete Howard erst das zurückgebliebene Tier, das sich noch immer wie von Sinnen putzte und rieb, dann hob er die Hand, tastete nach seiner Wange und blickte auf das hellrote Blut, das plötzlich auf seinen Fingern war. Sein eigenes Blut, das aus dem Kratzer drang, den Erika ihm verpasst hatte!
Eine dumpfe Ahnung begann sich in Howard breit zu machen. Im ersten Augenblick erschien ihm der Gedanke zu weit hergeholt, um wahr sein zu können, aber das Verhalten der Ratten ließ keinen anderen Schluss zu.
Es war sein Blut. Sein Blut, das jetzt von Tollwutviren wimmeln musste und zu einem tödlichen Gift geworden war, das die Tiere vertrieben hatte. Die Ratten mussten die Gefahr, die von ihm ausging, instinktiv spüren. Normalerweise hätte er diesen Gedanken als lächerlich von sich gewiesen, aber die vierbeinigen schwarzen Killer, die die Katakombenstadt zu Millionen bevölkerten, waren schließlich alles andere als normale Ratten.
Kurz entschlossen griff Howard noch einmal an seine Wange, biss die Zähne zusammen, als die Berührung einen neuerlichen heißen Schmerz durch sein Gesicht schießen ließ, und streckte seine blutverschmierte Hand nach der Ratte aus.
Ein weiß glühender Schürhaken hätte kaum eine größere Wirkung haben können. Die Ratte stieß ein panikerfülltes Quieken aus, huschte in Todesangst zwischen seinen Beinen hindurch und verschwand aus der Zelle.
Sekundenlang starrte Howard dem Tier nach. Dann richtete er sich auf und hob abermals die Hände an den blutenden Kratzer auf seiner Wange.
Der Schmerz trieb ihm die Tränen in die Augen. Aber als er sein Gefängnis verließ, waren seine Hände und sein Gesicht rot von glitzerndem, frischem Blut.
Fassungslos starrte ich auf die Wand aus massiver Schwärze, die sich dort erhob, wo ich vor Minuten noch ebenes Land und die Lichter einer Stadt gesehen hatte. Der Wind hatte sich gelegt und erst jetzt spürte ich, wie warm und stickig die Luft in den letzten Augenblicken geworden war.
Entsetzt fuhr ich herum und blickte in die Richtung zurück, aus der wir gekommen waren. Der Friedhof hatte sich nicht verändert, aber der Hügel mit dem sonderbaren Bauwerk darauf, den ich zuvor hinter seiner jenseitigen Umfriedung gesehen hatte, war verschwunden. Auch hinter der gegenüberliegenden Grenze des Gottesackers erstreckte sich nichts als wesenlose Schwärze.
»Illusion, Robert.« Ich hörte Shadows Worte ganz deutlich. »Es ist nichts als Illusion. Schein und Wirklichkeit sind eins. Nur zwei verschiedene Seiten eines Ganzen.«
Ich war nicht sehr überrascht, als sich die Dunkelheit teilte und eine rot glühende, geflügelte Gestalt ausspie. Flammende Blutaugen starrten auf mich herab.
»Du hattest deine Chance«, sagte der Dämon. »Du hättest gehen sollen. Aber du hast es vorgezogen, bei mir zu bleiben.«
Ich begriff nur langsam. Und als ich die Wahrheit erkannte, taumelte ich fast vor Schreck. »Dann sind wir … nicht entkommen?«, fragte ich. »Das hier ist -«
»Das Nichts, Robert Craven. Die ewige Verdammnis, für dich, für mich« – er deutete auf den reglosen Körper Lady Audleys, den ich noch immer in den Armen hielt –, »für sie. Das andere Ich, das du kennen gelernt hast, zeigte dir den Weg, aber du musstest ja den Helden spielen und zurückbleiben.« Er lachte. Es klang hässlich. »Vielleicht wird es ganz
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