Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
Scheiben waren zerbrochen oder gleich ganz verschwunden, mehr als die Hälfte des Daches war eingesunken, sodass die nackten Sparren sich einem dürren Skelett gleich gegen den Himmel erhoben, und die Tür, die ich selbst am vorausgehenden Abend eingeschlagen hatte, hing nun wieder in ihren Angeln, aber schräg und verzogen und vom Alter eines Drittels ihrer Bohlen beraubt.
Der Anblick, den das Innere bot, war fast noch bizarrer. Cohen hatte eine Kerze gefunden, nachdem er eine Weile polternd in der fast vollkommenen Dunkelheit jenseits der Theke herumgesucht hatte, und in ihrem flackernden, unsicheren Licht erblickten wir einen Raum, den seit Jahren kein Mensch mehr betreten hatte; wenn nicht seit Jahrzehnten. Auf dem Boden lag eine knöcheltiefe Schicht aus flockigem Staub und abgesehen von der Theke und dem Regal dahinter (es war vollkommen leer!) gab es kein einziges Möbelstück. In der Luft hing der unverwechselbare Geruch eines dem Verfall anheim gegebenen Hauses. Ein Teil der Decke war eingebrochen und durch das fast mannsgroße Loch konnte ich in das darüber liegende Stockwerk sehen – durch einen Zufall genau in das Zimmer, in dem ich selbst zwei Nächte verbracht hatte. Doch soweit ich es von hier unten aus erkennen konnte, war auch dieser Raum vollkommen leer. Weder von seiner Einrichtung noch von den wenigen Dingen, die ich selbst mitgebracht hatte, war auch nur eine Spur zu entdecken.
»Aber das ist doch … vollkommen unmöglich«, murmelte ich fassungslos.
Cohen antwortete nicht darauf, sondern sah mich hinter der Theke hervor nur aus großen Augen an und beugte sich dann herab. Ich bewegte mich zögernd auf die Treppe am anderen Ende des Raumes zu, um nach oben zu gehen und den völlig unmöglichen Eindruck, den ich gewonnen zu haben glaubte, zu überprüfen. Als die dritte Stufe der morschen Holztreppe unter meinem Gewicht einbrach, gab ich das Vorhaben auf und ging wieder zu Cohen zurück.
Der Inspektor hatte eine schwarze, staubverkrustete Kladde gefunden, in der er im Schein der Kerze herumblätterte. Jedes Mal, wenn er eine Seite umschlug, wirbelte eine graue Staubwolke empor, und die Schrift auf den Seiten war so verblasst, dass er Mühe hatte sie zu lesen.
Aber der verblüffte, zugleich auch erschrockene Ausdruck auf seinen Zügen entging mir keineswegs.
»Was haben Sie da?«, fragte ich.
Cohen blätterte eine weitere Seite um und überflog die Zeilen aus eng zusammengekniffenen Augen, ehe er kopfschüttelnd und ohne zu mir aufzublicken murmelte: »Das ist Cordwailers Kassenbuch.«
Ich verspürte ein absurdes Gefühl von Erstaunen, dass Cordwailer überhaupt so etwas wie eine Buchführung gehabt hatte. »Und?«, fragte ich.
»Also, ich verstehe nicht viel von solchen Dingen«, murmelte Cohen und sah mich nun doch an. »Aber wenn das hier stimmt, dann ist in diesem Geschäft vor mehr als fünf Jahren das letzte Mal etwas verkauft worden.«
»Aber das kann nicht …«, begann ich, brach ab und setzte dann mit dem völlig missglückten Versuch eines Lachens noch einmal an: »Sie müssen sich täuschen. Wir haben doch beide erst gestern mit ihm geredet.«
»Dann sehen Sie sich doch hier um«, murmelte Cohen.
Ich wusste, was er meinte. Die leeren Regale, die unversehrte Staubschicht auf dem Boden, in der meine eigenen und Cohens Spuren die einzigen waren, und der desolate Zustand des ganzen Hauses sprachen ihre eigene Sprache.
Trotzdem war ich noch nicht bereit, das Offensichtliche zuzugeben. Und Cohen offensichtlich auch nicht. Beinahe hastig verließen wir das Gebäude und steuerten das nächstbeste Haus auf der anderen Straßenseite an.
Der Anblick war der gleiche. Das Gebäude stand nicht nur leer, es war seit einem halben Jahrzehnt aufgegeben und verfiel. In den Fenstern befanden sich noch einige wenige Scheiben, die aber so mit Schmutz verkrustet waren, dass sie nicht mehr das mindeste Licht durchließen, und auch hier bedeckte grauer Staub wie ein makelloses Leichentuch jeden Quadratzentimeter. Das Gebäude war nicht leer geräumt wie der Laden, aber einige der einfachen Möbel zerbrachen, als ich sie berührte, und sämtliche Schränke und Truhen waren leer. In einem Nebenraum fand ich ein ordentlich gemachtes Doppelbett, über das der Staub eine zweite Decke gelegt hatte, doch dies war der einzige Beweis dafür, dass in diesem Haus jemals Menschen gelebt hatten.
Und so ging es weiter. Wir durchsuchten nicht ganz Brandersgate, wohl aber mehr als ein Dutzend willkürlich
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