Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II
Geschwindigkeit durch die monotone Landschaft der schottischen Highlands rollten. Tief in mir spürte ich, dass das Gefühl der Erleichterung vielleicht verfrüht war. Die Gefahr, der wir uns gegenübergesehen hatten, war keine von der Art, vor der man einfach davonlaufen konnte. Aber zumindest befanden wir uns wieder in einer Umgebung, die uns vertraut und gewohnt war. Das Abteil mit seinen roten Samtpolstern und der kostbaren Wandtäfelung war ein Teil der Welt, in der wir wohnten, und nach unserem Ausflug in das finstere Universum der GROSSEN ALTEN und ihrer Diener erschien mir der Anblick jeder noch so banalen Kleinigkeit wie ein Labsal.
Cohen erging es ebenso, das sah ich ihm deutlich an, obwohl er kein Wort sprach. Auf seinem Gesicht lag noch immer der gleiche, verbissene Ausdruck, den ich die ganze Nacht über darauf beobachtet hatte, aber seine Haltung war nicht mehr ganz so verspannt und in das mühsam unterdrückte Flackern von Furcht tief in seinen Augen mischte sich eine erste vorsichtige Erleichterung.
Nach einigen Minuten hielt der Zug noch einmal an, ganz wie der Schaffner gesagt hatte, aber die Station war klein; niemand stieg ein oder aus und wir fuhren fast sofort weiter, wohl auch, um die verlorene Zeit bei dem nicht eingeplanten Aufenthalt in Brandersgate wieder einzuholen.
Eine halbe Stunde, nachdem wir den Bahnhof verlassen hatten, erschien der Schaffner und brachte uns eine einfache, aber sehr reichliche Mahlzeit. Nach den Entbehrungen der letzten beiden Tage kamen mir die dünne Suppe und die nicht allzu frischen Käse- und Schinkensandwiches wie das Köstlichste vor, das ich jemals gegessen hatte, und sowohl Cohen als auch ich griffen nach Kräften zu und vertilgten alles, was uns der Mann gebracht hatte, bis auf den letzten Krümel.
Das monotone Rattern der Räder auf den Gleisen, die reichliche Mahlzeit und vor allem das Gefühl der Sicherheit taten ihre Wirkung: Ich wurde müde. Dazu kam, dass ich in der vorangegangenen Nacht überhaupt nicht und in der davor nur sehr wenig geschlafen hatte, sodass es mir immer schwerer fiel, die Augen offen zu halten. Trotzdem kämpfte ich mit aller Kraft gegen den Schlaf an, denn ich spürte, dass es kein erquickender Schlaf sein würde. Das Gefühl, in Sicherheit zu sein, war nicht überzeugend genug. Tief in mir ahnte ich, dass es nur etwas war, was ich mir selbst einredete; und dass ich diesen Selbstbetrug nicht mit hinüber in den Schlaf nehmen konnte, sodass mich Albträume und Furcht erwarteten. Cohen schien in dieser Hinsicht weniger Hemmungen zu haben – er faltete die Arme vor der Brust, ließ den Kopf auf die Seite sinken und begann schon nach ein paar Sekunden so lautstark zu schnarchen, dass ich fast so etwas wie Neid empfand. Außerdem war mein Verhalten nicht besonders klug. Vor uns lag eine acht- oder neunstündige Bahnfahrt, aber spätestens nach unserer Rückkehr nach London würde es mit Cohens Schweigsamkeit vorbei sein, das wusste ich. Ich kannte ihn zu lange und zu gut, um mich auch nur eine Sekunde der Illusion hinzugeben, dass er das Erlebte einfach mit einem Achselzucken abtun und zur Tagesordnung übergehen würde.
Einige Augenblicke später musste ich wohl doch eingeschlafen sein, denn das Nächste, woran ich mich erinnerte, war, mit einem Gefühl heftiger Übelkeit hochzufahren und um ein Haar vom Sitz zu fallen. Im letzten Moment fing ich mich wieder. Durch meine hastige Bewegung geweckt, öffnete Cohen träge ein Auge, blinzelte mich verschlafen ein paar Sekunden lang an und schnarchte dann weiter.
Ich ließ mich auf meinen Sitz zurücksinken, aber mein Magen hörte nicht auf zu revoltieren. Die Übelkeit wurde immer schlimmer und nun gesellte sich auch noch ein heftiges Schwindelgefühl hinzu. Offensichtlich präsentierte mir mein Körper jetzt die Quittung für das, was ich in den letzten Tagen von ihm verlangt hatte. Vielleicht war auch eines der Sandwiches schlecht gewesen oder ich hatte in meiner Gier einfach zu hastig gegessen. Gleichwie – aus der rumorenden Übelkeit in meinem Magen wurde langsam, aber unbarmherzig ein spürbarer Brechreiz.
Ich stand auf, presste die Kiefer aufeinander und trat mit vorsichtigen, kleinen Schritten aus dem Abteil heraus. Der Zug bewegte sich ratternd und mit monotoner Gleichförmigkeit dahin, aber ich fühlte mich so schwach und wackelig auf den Beinen, dass ich mich an der Wand festhalten musste, als ich mir meinen Weg zur Toilette am vorderen Ende des Wagens bahnte. Zu meiner
Weitere Kostenlose Bücher