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Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II

Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II

Titel: Hexer-Edition 22: Der Sohn des Hexers II Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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ein Mehrfaches dieser Zahl. Im Moment zumindest hatte ich das Gefühl, mich mit Riesenschritten meinem zweihundertfünfzigsten Geburtstag zu nähern. Und unglückseligerweise hatte ich zwar Crowleys Körper und die Last jedes einzelnen Jahres, das auf seinen Schultern lag, geerbt, nicht jedoch seine Fähigkeit, ihn auf magischem Wege zu verjüngen und der Zeit und dem Tod so immer wieder ein Schnippchen zu schlagen.
    Der Gedanke erfüllte mich mit einem so tiefen, aufgrund seiner Hilflosigkeit schmerzenden Zorn, dass ich unbewusst die Hände zu Fäusten ballte – ein Fehler, wie ich in der gleichen Sekunde begriff, denn ein plötzlicher scharfer Schmerz zuckte durch meine Finger. Aufstöhnend blieb ich stehen und hob die Hände vor das Gesicht. Meine Finger waren zu dünnen Vogelknochen geworden, die Haut, die sich über Arthritisverknorpelte Gelenke spannte, grau und rissig und mit dunklen Altersflecken gesprenkelt. Zum wiederholten Male seit ich den Bahnhof verlassen hatte, rief ich mir ins Gedächtnis zurück, dass ich vorsichtig sein musste. Selbst eine so banale Geste konnte sich auf äußerst schmerzhafte Weise rächen. Wenn man anfing die Geburtstagskerzen für eine dreihundertflammige Torte zu sammeln, musste man mit jedem Atemzug geizen.
    Ich hatte das Ende der Gasse erreicht und trat, ganz wie ich es erwartet hatte, auf einen hohen, von Mauern umschlossenen Innenhof hinaus. Sofort fielen Regen und Wind wieder über mich her, wie zwei Raubtiere, die geduldig darauf gewartet hatten, dass ihre Beute wieder aus ihrem Versteck hervorkam, und sie hatten noch einen Freund mitgebracht: Ein fühlbarer Schwall von Kälte schlug über mir zusammen und gesellte sich zu der, die aus meinem Inneren emporgestiegen war. Ich zog den Kopf zwischen die Schultern und verbarg die Hände unter den Achseln, um wenigstens in den Genuss meiner eigenen Körperwärme zu kommen, aber es half nichts.
    Aus brennenden Augen sah ich mich um. Mein Sehvermögen hatte stark nachgelassen – der Hof maß allerhöchstens zwanzig Schritte im Geviert, aber ich konnte die gegenüberliegende Wand trotzdem nur verschwommen erkennen. Immerhin sah ich jedoch, dass mindestens zwei der vier Häuser, die die Wände des Hofes bildeten, leer standen. Das eine war eine brandgeschwärzte Ruine, die Fenster des anderen waren sämtlich eingeschlagen und unter einigen lagen die Trümmer der ehemaligen Einrichtung, die man aus irgendeinem Grund hinausgeworfen und einfach liegen gelassen hatte.
    Da es keinen zweiten Ausgang zu geben schien, wollte ich mich schon wieder umwenden und zurück zur Straße gehen, als ich bemerkte, dass ich nicht allein auf dem Hof war.
    Im Windschatten einer der Wände hockten, mit ihren zusammengekauerten Körpern die Konturen des Halbmondes trocken gebliebener Erde nachzeichnend, ungefähr ein halbes Dutzend Gestalten. Es waren Männer und eine Frau unterschiedlichen Alters und Aussehens, die sich trotzdem auf eine unangenehme Weise allesamt glichen; alle waren schmutzig, alle waren in Lumpen oder zumindest sehr heruntergekommene Kleider gehüllt und alle sahen ausgezehrt, krank und auf eine unbestimmte Art verbittert und zornig aus.
    Es waren Stadtstreicher, Penner, Tippelbrüder, Berber – wie immer man sie nennen wollte; die Ärmsten der Armen, Menschen, die irgendwie durch die Maschen unserer modernen Wohlstandsgesellschaft gefallen (vielleicht auch ganz absichtlich geschlüpft) waren und nicht einmal mehr ein Dach über dem Kopf besaßen. Sie alle starrten mich an, neugierig, aufmerksam, der eine oder andere wohl auch voller Furcht oder Gier; hinter den vor der Zeit ergrauten Gesichtern mochte sich die Frage formulieren, ob ich eine Gefahr darstellte – oder möglicherweise auch eine lohnende Beute. Aber die Antwort auf beide Fragen lautete wohl eindeutig nein, denn die Blicke der sieben oder acht Augenpaare blieben zwar weiter auf mir gerichtet, doch diese spezielle Art des Interesses erlosch so schnell wie sie gekommen war.
    Trotzdem blieb ich sekundenlang mit klopfendem Herzen stehen. Ich wusste zwar, dass diese Menschen in den meisten Fällen harmlos waren, im Grunde höchstens bemitleidenswert, aber eingedenk meiner letzten Erfahrungen mit ihnen, gemahnte ich mich selbst zu einer gewissen Vorsicht.
    Und ich wäre sogar wieder gegangen (obwohl es im Grunde nichts gab, wohin ich gehen konnte, wie die Dinge lagen), doch in diesem Augenblick hob ein grauhaariger Alter von vielleicht fünfzig Jahren – mithin ungefähr

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