Hexer-Edition 23: Das Labyrinth von London
nicht der Wahrheit, ich spürte es deutlich. Ich hatte schon immer gespürt, wenn mich jemand belog; diese Fähigkeit war ein Teil meines magischen Erbes. In diesem Fall hätte ich allerdings darauf verzichten können. Ich wusste nur zu gut, was damals auf der Insel wirklich geschehen war. Schließlich war ich dabei gewesen. Auch, wenn ich es bis vor wenigen Minuten noch nicht einmal selbst gewusst hatte.
»Zumindest soweit es Ihren Ersten Offizier, Hasseltime, betrifft, gibt es schon noch einiges hinzuzufügen«, widersprach Howard. »Entgegen Ihrer Aussage hat er sehr wohl überlebt.«
Hasseltime. Er musste einer der Männer gewesen sein, die vor meinen Augen im Boden versunken waren.
»Dann muss ich mich damals getäuscht haben«, entgegnete Blossom kühl. »Als der Stollen einstürzte, konnte ich sehen, wie die Felsbrocken auf die Männer hinabstürzten. Es erschien mir unvorstellbar, dass jemand überlebt haben könnte.«
»Und Sie haben es einfach dabei bewenden lassen?«, fragte Howard.
»Was sollte ich tun? Ich habe mir nichts vorzuwerfen, Mister Lovecraft«, antwortete Blossom. »Sind Sie gekommen, um mir Vorwürfe zu machen? Das haben schon andere versucht. Es gab eine Anhörung vor dem Marineausschuss, wo ich von jeder Schuld frei gesprochen wurde.«
»Und warum haben Sie dann unmittelbar darauf den Dienst quittiert?«, fragte Howard.
»Das war eine rein persönliche Entscheidung. Auch wenn ich keine Schuld an dem Unglück trug, sind doch immerhin mehr als ein Dutzend meiner Männer vor meinen Augen gestorben, bei einem Unternehmen, das ich geleitet habe.«
»Verstehen Sie uns nicht falsch«, sagte ich rasch. »Es geht uns ganz gewiss nicht um Schuldzuweisungen. Wir möchten nur die Wahrheit herausfinden. Immerhin hat Hasseltime damals überlebt und trotz der Sprengung muss er die Insel irgendwie verlassen haben, um jetzt, fast ein halbes Jahr später, in einem unterirdischen Stollen in London wieder aufzutauchen. In einem Stollen, der scheinbar keinerlei Verbindung zur Außenwelt hat. Wir möchten nur herausfinden, wie er dorthin gekommen ist – und wo er sich die vergangenen Monate aufgehalten hat. Wie er die ganze Zeit überleben konnte.«
»Warum fragen Sie dann nicht ihn? Er dürfte es am besten wissen.« Blossom klang trotzig, nicht feindselig. Aber sein Blick war eindeutig gequält.
»Leider weiß er nicht einmal seinen Namen«, erwiderte Howard. »Was immer er erlebt hat, muss grauenhaft gewesen sein. Er hat vollständig den Verstand verloren. Wie ich gehört habe übrigens ebenso wie die beiden Marinesoldaten, die zusammen mit Ihnen von der Expedition zu der Insel zurückgekehrt sind.«
Die Haushälterin betrat erneut das Zimmer, um den Grog zu servieren, und verhinderte, dass Blossom sofort antwortete. Ich nippte an dem heißen Getränk. In dem Tee befand sich eine ziemlich kräftige Portion Rum. Blossom schwieg auch, nachdem Polly das Zimmer wieder verlassen hatte.
»Ich will ganz ehrlich sein«, unternahm ich einen neuen Anlauf, um das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Für einen Moment begann sich schiere Panik in Blossoms Blick auszubreiten. »Wir können ganz offen miteinander reden, Kapitän Blossom. Mister Lovecraft ist ein guter Freund und Vertrauter von mir.«
Howard blickte mich stirnrunzelnd an, aber ich beachtete ihn gar nicht, sondern konzentrierte mich ganz auf Blossom. »Sie und ich wissen doch genau, was damals auf dieser Insel wirklich geschah. Ich kann Ihnen selbst nicht erklären, was es war, aber es war etwas, das möglicherweise so ungeheuerlich ist, dass niemand Ihnen die Wahrheit geglaubt hätte. Wir haben gewisse Erfahrungen mit solchen … sagen wir: Vorfällen und ich kann Ihnen versichern, dass nichts von dem, was Sie uns erzählen, an fremde Ohren dringen wird.«
Während ich sprach, beobachtete ich Blossom sehr genau. Er hatte sich gut in der Gewalt, doch seine Augenlider zuckten fast unmerklich und sein Blick flackerte noch unruhiger. »Ich weiß nicht, wovon Sie reden«, sagte er stur.
»O doch«, behauptete ich. »Das wissen Sie. Und Sie kennen mich auch.«
»Ach?«, fragte Blossom höhnisch, während sich Howards Stirnrunzeln noch vertiefte. »Vielleicht aus einem anderen Leben, wie?« Der Spott in seiner Stimme klang wenig überzeugend. »Hören Sie, ich kenne Sie nicht, meine Herren, und ganz abgesehen davon, dass ich bereits alles gesagt habe, was es zu sagen gibt, sehe ich keinen Grund, warum ich mich von Ihnen einem Verhör unterziehen
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