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Gedächtnis übergeht, muss es zunächst in Literatur verwandelt werden. Das mag schäbig sein, aber es ist nun einmal so. Ich weiß bereits jetzt, dass in dem begrenzten Umfang meiner Erzählung nur die Familie Moravec und vielleicht die Familie Fafek Platz finden werden. Die Familien Svatoš, Novák, und Zelenka sowie all die unzähligen anderen, deren Namen und Existenz mir unbekannt sind, werden weiterhin in Vergessenheit ruhen. Doch immerhin, ein Name ist ein Name. Ich denke an sie alle. Ich möchte zu ihnen sprechen. Und wenn mich niemand hört, ist es nicht schlimm. Weder für sie noch für mich. Eines Tages möchte vielleicht irgendwo irgendjemand anders Trost finden und die Geschichte der Familien Novák, Svatoš, Zelenka oder Fafek niederschreiben.
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Am 8. Januar 1942 betreten Kubiš und der humpelnde Gabčik erstmals den heiligen Boden von Prag, und ich bin sicher, dass die barocke Schönheit der Stadt sie in Staunen versetzt. Doch zugleich sehen sie sich mit den drei großen Problemen eines Untergrundkämpfers konfrontiert: Unterkunft, Verpflegung, Papiere. Sicher, sie wurden in London mit gefälschten Personalausweisen ausgestattet, doch das ist nicht annähernd ausreichend. 1942 ist es im Protektorat von Böhmen und Mähren überlebenswichtig, eine Arbeitserlaubnis vorweisen zu können, und wenn man am helllichten Tage dabei aufgegriffen wird, wie man durch die Straßen schlendert, so wie die beiden Männer es in den kommenden Monaten häufig tun werden, sollte man besser eine gute Erklärung parat haben, warum man gerade nicht arbeitet. Die lokale Widerstandsbewegung wendet sich an den Arzt, der Gabčiks Fuß versorgt: Er diagnostiziert ein Zwölffingerdarmgeschwür bei Gabčik und eine Entzündung der Gallenblase bei Kubiš, damit sie eine Arbeitsunfähigkeitsbescheinigung erhalten. Somit sind die Papiere in Ordnung. Bleibt die Frage der Unterkunft. Doch wie sie erfreut feststellen werden, mangelt es in dieser düsteren Epoche nicht an Menschen mit gutem Willen.
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Man sollte nicht alles glauben, was erzählt wird, schon gar nicht, wenn es aus dem Mund der Nazis kommt: Entweder halten sie ihre Wunschvorstellungen für Tatsachen und liegen damit völlig falsch, so wie der gutgenährte Göring, oder sie verbreiten zu Propagandazwecken haarsträubende Lügen, so wie Chefdemagoge Goebbels, den Joseph Roth als «menschgewordenen Lautsprecher» bezeichnete. Oft genug trifft beides zu.
Heydrich bildet bei diesem nationalsozialistischen Tropismus keine Ausnahme. Als er behauptet, die tschechische Widerstandsbewegung ihrer führenden Köpfe beraubt und somit unschädlich gemacht zu haben, glaubt er vermutlich selbst daran; auch wenn er damit nicht ganz unrecht hat, ist es trotzdem Prahlerei. Als Gabčik in der Nacht vom 28. Dezember 1941 eine unglückliche Landung auf der Heimaterde vollzieht und sich dabei verletzt, ist die Lage der Widerstandsbewegung im Protektorat beunruhigend, aber nicht völlig aussichtslos. Es bleiben ein paar Trumpfkarten, die noch ausgespielt werden können.
So ist die große Organisation der vereinigten tschechischen Widerstandsbewegungen «Tři králové» (die Drei Könige) zwar stark angeschlagen, aber noch einsatzbereit. Bei den Drei Königen handelt es sich um die Vorsitzenden der Organisation, drei ehemalige Offiziere der tschechoslowakischen Armee. Zwei von ihnen sind im Januar 1942 zu Fall gebracht: Der eine wurde bei Heydrichs Ankunft erschossen, der andere in den Gefängnissen der Gestapo gefoltert. Somit bleibt ein Mann, Václav Morávek (mit einem k am Ende, nicht zu verwechseln mit Oberst Moravec, der Familie Moravec oder Emanuel Moravec, dem Minister für Schulwesen und Volksaufklärung). Er trägt das ganze Jahr über Handschuhe, weil er sich, um einer Kontrolle der Gestapo zu entgehen, einen Finger abtrennte, indem er ihn an das Kabel eines Blitzableiters hielt. Von den Drei Königen ist er der letzte, er ist äußerst aktiv, koordiniert das verbliebene Netz von Widerstandskämpfern und setzt sich immer größeren Risiken aus. Er wartet auf das, wonach seine Organisation seit Monaten verlangt: das Eintreffen der Fallschirmspringer aus London.
Über ihn gelangen unglaubliche Informationen nach London, die er von einem der größten Spione des Zweiten Weltkriegs erhält – von Paul Thümmel, einem hochrangigen deutschen Offizier der Abwehr mit Codenamen 54 alias René. Ihm allein verdankt er, dass er Oberst Moravec über den bevorstehenden Angriff der
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