Hilfe, die Googles kommen!
Killerdronen mit Plastikkrallen an Bildschirme geklemmt wurden, bis hin zu winzigen Linsen, die fast beängstigend versteckt ins Display integriert sind.
Unscharfe Geisterbilder wie aus japanischen Horrorfilmen, Gesichter, die einfrieren, obwohl sie weitersprechen, zeitlupen artige Bewegungsstudien in Golfkriegsoptik, verzerrte Droidenstimmen à la Wall-E gehören dabei bis heute zum Videochat-Alltag. Es ist im Grunde kurios: Man kann mit Computern fast alles tun außer Kinder zu zeugen und in der Zeit zu reisen, aber die simple Bild- und Tonübertragung zwischen zwei Chat tern führt die Technik an ihre Grenzen. Egal ob Skype, Google Hangout, Facetime oder welches Programm auch immer – Video chats funktionieren nur in einer perfekten Welt mit optimalen Bedingungen bei Internetverbindung, Hard- und Software.
In der harschen Realität des Alltags ist das Videogespräch mit der Familie zumeist nichts anderes als das frustrierende Starren auf unförmige, zittrige Pixelhaufen, aus denen unverständliche Laute dringen. Das ach so moderne Bildtelefonat wirkt damit zuweilen so, als befände sich die Familie in einem jemenitischen Internetcafé und würde, vom Teufel besessen, in Zungen sprechen. Das von der Werbung propagierte Wohlgefühl beim »Nach-Hause-Telefonieren« stellt sich zumindest bei mir nicht ein und führt schon gar nicht zu einem leuchtenden Zeigefinger. Selbst wenn ein Videochat mal funktionieren sollte und man sein Gegenüber in akzeptabler Bild- und Tonqualität erlebt, beginne ich mich spätestens nach dreißig Sekunden zu fragen, ob es wirklich ein Gewinn ist, im Rahmen der gegebenen Konversation die Visage des Gesprächspartners anschauen zu können. 139
Natürlich hängt die Antwort auf diese Frage sehr vom jeweiligen Gesprächspartner ab. Trotzdem gibt es bei der Videotelefonie ein Paradoxon, dass sich selbst beim hübschesten Gegenüber nicht wegdiskutieren lässt: Man kann sich zwar sehen, schaut sich aber nicht an. Die Kamera befindet sich nämlich in der Regel am oberen Bildschirmrand, man schaut aber nicht hinein, sondern blickt auf den Bildschirm, um seinen Gesprächspartner zu sehen. Das wirkt auf das Gegenüber dann kurioserweise so, als würde man ihm auf die Brust starren.
Zusätzlich sieht man sich in einem kleinen Kontrollfenster noch selber, was dazu führt, dass hier drei Personen, zweimal man selbst, einmal der Konversationspartner, miteinander sprechen und aneinander vorbeischauen – eine Situation wie aus einem Film des Surrealisten Luis Buñuel: »Der andalusische Videochat«.
Wenn man nun zusätzlich noch die Möglichkeit des Gruppenvideochats nutzt, geht dies problemlos als Videoinstallation bei der nächsten Documenta durch.
Es heißt ja immer: »Ein Bild sagt mehr als tausend Worte.« Was aber passiert, wenn Bilder tausend Worte sagen, können wir heute am Computer erleben. Der Videochat ist und bleibt eine Erfindung, die eigentlich nur für die Sex- und Pornoindustrie wirklich Sinn macht. Beim Cybersex ist der Inhalt der Gespräche genauso überschaubar wie der begaffte Körper. Da ist es dann auch nicht schlimm, ja im Prinzip sogar unvermeidlich, wenn die Amüsierdame vor der Videocam das Gefühl hat, der Spanner würde ihr auf die Brust starren – berufsbedingt gleitet der Blick meist sogar noch tiefer.
Auch fernab professioneller Spannerbewirtung reizt die Webcam offenbar ungemein, seine primären und sekundären Geschlechtsorgane zu präsentieren. Es soll schon oft passiert sein, dass der Ehegatte in bierseliger Runde mit den Arbeitskollegen seine Frau zum Videochat aufgefordert hat und diese im Glauben, er sei allein, den Anruf splitterfasernackt entgegennahm. In solchen Situationen darf auf beiden Seiten mit einem großen Hallo gerechnet werden.
Die Tücken der Technik machen also auch vorm heiligen Stand der Ehe nicht halt.
Sie fragen sich jetzt sicher, ob ich aufgrund meiner fast hasserfüllten Einstellung zum Videochat dieser Technik entsage. Leider nicht: Ich nutze Videochats vor allem auf Tournee relativ häufig. 140 Man versucht halt immer wieder, Frau und Kind mittels Bildübertragung näher zu sein, selbst wenn sie nur zwei Pixelhaufen sind, die aramäische Flüche ausstoßen.
Meist brechen wir den Chat ab und telefonieren auf die gute alte Art, also von Hörer zu Muschel und umgekehrt. Verstehen Sie mich nicht falsch – das soll keine reaktionäre Besinnung auf konservative Werte sein. Ich finde lediglich, dass die Videotelefonie nicht
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