Himmel uber Langani
wäre mit einem schweren Fluch belegt worden. Als Walter sie schließlich zu Raphael brachte, war es bereits zu spät, und selbst der allmächtige Bwana Daktari konnte sie nicht mehr retten. Kurz darauf waren Walter und seine Frau in ihr Heimatdorf am Victoriasee zurückgekehrt. Beschämt stellte Sarah fest, dass sie nicht einmal den Namen der Frau wusste. Sie hatte nie nach ihnen gefragt und sich auch keine Gedanken über ihr Schicksal gemacht. Lag das daran, dass sie sie möglicherweise nie als wirkliche Menschen, sondern nur als Bedienstete betrachtet hatte? Oder war ihre Jugend schuld gewesen, dass sie bis heute die Erinnerung an sie ohne Gewissensbisse verdrängt hatte?
Einige Monate später stand sie im roten Licht der Dunkelkammer und gelobte, sich nicht mehr so unsensibel zu verhalten, wenn sie nach Kenia zurückkehrte. Sie würde einen Weg finden, um ihren eigenen Beitrag für dieses Land zu leisten. Etwas, das in gewisser Weise die unermüdlichen Bemühungen ihrer Eltern widerspiegelte, als diese versucht hatten, den Menschen dort medizinische Versorgung und Bildung zukommen zu lassen. Kritisch betrachtete sie die entwickelten Aufnahmen. Diesen mitgenommenen Menschen, deren Gesichter ihr jetzt entgegenstarrten, verdankte sie so viel. Ihre Zeit in dem Obdachlosenasyl war sehr wertvoll gewesen, und mittlerweile konnte sie sogar Mikes verletzendem Verhalten etwas Positives abgewinnen. Sie war dadurch zum Nachdenken gezwungen geworden. Aber sie ging nicht mehr mit ihm aus. Sie vertraute ihm nicht mehr und hatte das Gefühl, von ihm benutzt worden zu sein. Während sie darauf wartete, dass die Bilder trockneten, lehnte sie sich in ihrem Stuhl zurück und dachte an den Abend, an dem sie die Fotos geschossen hatte.
Bei ihrer Ankunft hatten nur ein paar Bewohner und Helfer in der Küche gesessen, aber Sarah wusste, dass der große Ansturm kommen würde, wenn die Kneipen schlossen. Mittlerweile war sie es gewohnt, darauf zu achten, dass niemand Schnaps hereinbrachte, und ihn denen, die welchen dabeihatten, geschickt abzunehmen. Wenn es Ärger gab, war meistens Alkohol im Spiel. Bei der Übergabe von hereingeschmuggeltem Whisky und Gin gingen oft Möbel zu Bruch, weswegen in den unteren Räumen nur ramponierte Stühle und Tische standen. Ihr alter Freund John-Jo war einer der schlimmsten Missetäter. Sarah trug ihre Kaffeetasse zum Tisch und holte ihre Kamera hervor.
»So, wie wäre es jetzt mit ein paar Porträts?«, fragte sie die Gruppe lächelnd.
»Verbrecherfotos! Gütiger Gott, warum willst du von uns Bilder machen?«
Duncan war ein kleiner, drahtiger Mann mit buschigem Bart und kaputten Zähnen. Er grinste die alte Frau neben ihm an. Sie zwinkerte in den übel riechenden Rauch, der sich aus der selbst gedrehten Zigarette in ihrem Mundwinkel kräuselte. Duncan warf Sarah einen Verschwörerblick zu.
»Knips diese Schönheit und mich! Sehen wir nicht prachtvoll aus?«
Schon bald setzten sich alle in Pose, und ihre Befangenheit legte sich, bis sie schließlich die Kamera gar nicht mehr wahrnahmen. Dann erschien John-Jo, wie durch ein Wunder erstaunlich nüchtern, und öffnete den Klavierdeckel. Jemand stimmte ein Lied an. Sarah beobachtete, wie die Musik ihre Gesichter bei dem Gedanken an bessere Zeiten weicher erscheinen ließ, und stellte die Belichtungszeit so ein, dass sie kein Blitzlicht brauchte. Denn sie wollte diese Momente ohne grelles Licht einfangen und niemanden daran erinnern, dass sein Leben und sein Scheitern auf einem Bild festgehalten wurde. Sie richtete die Kamera auf Joan, eine dünne Frau aus Galway mit wildem Blick, die eine messerscharfe Zunge hatte, wenn sie wütend war, und Aggie, klein und schüchtern, außer wenn sie ein paar Bier und Whisky intus hatte – dann konnte sie sich in einen wahren Teufel verwandeln und mit ihren Flüchen das Haus erzittern lassen.
Von der Linse eingefangen, drehten sie sich und stampften im Takt der Musik, die sie zurück in ihre Jugend brachte. Im Licht tauchten ein feuchtes Auge, ein zahnloses Lächeln, eine fettige Locke, eine hochgezogene Schulter, ein gereckter Kopf und in die Seiten gestemmte Arme auf. Während die Tänzer in dem schäbigen Raum herumwirbelten, verschwammen in der Bewegung die graubraunen Wände vor ihren Augen, sodass die feuchten Flecke an der Mauer sich in das geheimnisvolle Wandgemälde eines Ballsaals verwandelten. Sarah bewegte sich zwischen ihnen und machte Nahaufnahmen. Das war gut. Sie wusste, dass die Atmosphäre von
Weitere Kostenlose Bücher