Himmel und Hölle
dicken Aktenordner mit den Armen über meinen Kopf und kritzelte anschließend meine Erkenntnisse mit einem Kugelschreiber in ein eselsohriges Notizbuch. Das Thema Krebs hielt mich fest. Es war ungemein aufregend. Nachdem ich den Krebs in den vergangenen fünf Jahren an der Seite von Professor Aigner operiert hatte, näherte ich mich dem Monster nun als richtige Forscherin! Aber bitte schön nur in der Theorie! Ich dankte Gott für meinen Grund für die vorübergehende Bettlägerigkeit. Lieber meine kleine Mini als Krebs im Bauch. Allein bei dem Gedanken liefen mir eiskalte Schauer über den Rücken.
10
Von Ferien oder gar einer Reise war bei Stefan noch nie die Rede gewesen. Noch nicht mal für eine Hochzeitsreise hatte es damals gereicht - weder vom Geld her noch von der Zeit. Obwohl meine Eltern recht wohlhabend waren, wären sie nie auf die Idee gekommen, uns eine Kurzreise nach Paris zu spendieren. Oder eine Mittelmeerkreuzfahrt oder so. Wir hatten auch beide nie dergleichen erwartet.
Hinzu kam, dass meine Mutter damals, ohne es zu wissen, einer finanziellen Katastrophe entgegensteuerte: Ihr legendäres Spielwarengeschäft am Hamburger Jungfernstieg sollte bald eine astreine Pleite erleiden. Danach sollte sie mit ihren Sanierungs- und Konsolidierungsarbeiten vollauf beschäftigt sein, um dann in Berlin noch mal von vorn anzufangen. Als Oma fürs Grobe wäre sie so oder so nie infrage gekommen. Nicht meine Mutter.
Wir bekamen also nichts geschenkt. Weder Stefan noch ich. Unser Leben war immer mit Arbeit ausgefüllt. Und so eben auch diese meine erste Schwangerschaft.
Stefan schuftete in seinem neuen beruflichen Umfeld und raste zwischen Rathäusern in ganz Franken,
Bayern und den neuen Ländern hin und her, sodass er noch nicht mal Zeit hatte, mich täglich zu besuchen.
Inzwischen war es Ende August. Wenn ich es vor Hitze, Langeweile oder Liegedruck nicht mehr aushielt, flüchtete ich mich wieder in meine Träume. So wie ich es bei Stefan gelernt hatte.
Ich bin mit Stefan in Afrika, und eine lange Schlange Mädchen wird gegen Krebs geimpft. Wir bauen ein eigenes Krankenhaus. Über dem Tafelberg werfen wir Kondome vom Flugzeug ab. Es gibt nur noch gewollte Schwangerschaften. Aids ist besiegt. Krebs auch …
Wenn keiner hinsah, arbeitete ich auch schon mal im Sitzen. Und ließ dabei die Beine baumeln.
»Nee, jetzt mal im Ernst, Konstanze. Du brauchst die Wehenhemmer, sonst geht die ganze Sache hier in Kürze los«, meinte Sabine kopfschüttelnd, als sie mich mal wieder schallte.
Aber ich wollte AUFSTEHEN! Nur EINMAL! Nur für einen einzigen Abend!
»Meinetwegen«, gab ich klein bei. »Aber beeil dich! Wir haben Karten für den Fliegenden Holländer!«
»Spinnst du? Nie im Leben lasse ich dich in diesem Zustand …«
»Sei doch nicht so spießig!«, zischte ich unter meinem Ultraschallgel. »Stefan hat nämlich Beziehungen nach Bayreuth! Ich will dort einmal im Leben eine Wagner-Oper sehen! Und ich weiß auch schon, was ich anziehe …« Wieder wollte ich mich aufrappeln.
»Das kannst du dir abschminken.« Sabine schob
sich entschieden die Brille hoch und rollte auf ihrem Untersuchungsstuhl in Richtung Handwaschbecken. »Hier! Putz dich ab.«
»Nein! Ich will mir das aber nicht abschminken! Stefan hat es tatsächlich geschafft, zum engsten Vertrauten des Grafen aufzusteigen! Und der hat mit den Karten geholfen. Wir erscheinen da, und zwar zu zweit! Das ist wichtig. Stefan sagt, der Graf …«
»Ihr erscheint da zu dritt, wenn du jetzt keine Ruhe gibst!«
»Du willst es mir nur verderben«, sagte ich schmollend. Dabei wusste ich genau, dass Sabine recht hatte. Ich wollte nur EINMAL etwas tun, was andere Frauen auch durften. In die Oper gehen. Mit meinem Mann. In einem schönen Kleid. Meinetwegen hochschwanger.
Obwohl es mit dem Gestühl in Bayreuth ja nicht gerade zum Bequemsten bestellt ist. Aber ich hätte die zweieinhalb Stunden durchgehalten. Ich wollte mal raus! Ich wollte unter LEUTE! Ich wollte EINMAL nicht nach Krankenhaus riechen! Mein Mann war jetzt ein hohes Tier. Ich wollte mich an seiner Seite zeigen! Aber das Schicksal ließ mich nicht.
»Konstanze! Du bist eine Risiko-Schwangere! Hör auf mit diesem Bayreuth-Geheule!«
»Stefan und ich träumen seit Jahren davon, einmal zu den Bayreuther Festspielen zu gehen! Und jetzt haben wir zwei Karten und sitzen neben Thomas Gottschalk! Stefan hat so hart dafür gearbeitet! Es bedeutet ihm so viel … und mir auch!«
»Dann geht ihr eben
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