Himmelsdiebe
öffnete die Augen. Vor ihr stand Harry. Er hatte sich verkleidet wie die anderen. Wie Lubbers und ihr Vater trug er einen weißen Kittel und eine Hornbrille.
»Eine so schöne Frau«, wiederholte er, »und so hässliche Dinge.«
»Bitte hilf mir!«, flüsterte sie und streckte die Arme nach ihm aus. »Wir müssen unser Baby retten.«
Eine lange Weile sezierte er sie mit seinem Blick. »Tut mir leid«, sagte er schließlich. »Ich habe zu tun.«
Angewidert schüttelte er den Kopf. Dann wandte er sich zur Tür und ging hinaus, gefolgt von dem schwarzen Hund.
15
Pos t – Post aus Marseille!
»Nun?«, fragte Lulu. »Kommst du raus aus Frankreich? Damit du endlich zu deiner Laura kannst?«
»Moment«, sagte Harry, »ich habe noch nicht fertig gelesen.«
Vor fünf Minuten hatte Lulu ihm den Brief gebracht, zusammen mit einem Abreißkalender, auf dem ein Foto von Maréchal Pétain prangte. Während sie den Kalender an einem Nagel aufhängte, las Harry das ersehnte Schreiben. William Dry, der Leiter des American Rescue Committee in Marseille, hatte tatsächlich geantwortet. Und er stellte sogar eine Lösung in Aussicht: Dry kannte eine reiche amerikanische Kunstliebhaberin, die schon für eine ganze Reihe verfolgter Künstler gebürgt und ihnen die Überfahrt nach Amerika ermöglicht hatte. Wahrscheinlich würde sie auch Harry helfen, wenn er sie darum bäte. Sie halte sich zurzeit in Südfrankreich auf, um sich um die Verschiffung ihrer Kunstsammlung in die USA zu kümmern.
Als Harry ihren Namen las, stieß er einen Fluch aus: »Ausgerechnet!«
»Schlechte Nachrichten?«, wollte Lulu wissen.
»Wie man’s nimmt.« Harry ließ den Brief sinken. Dann sagte er: »Ich brauche deinen Rat als Frau. Wie würdest du reagieren, wenn ein Mann dir heute sagt, du hättest keinen Geschmack, und dich morgen bittet, für ihn zu kochen. Würdest du ihm verzeihen und ihm trotzdem was zu essen geben?«
Lulu grinste ihn mit ihren braunen Zahnstumpen an. »Nur wenn er gut aussieht und bereit ist, mit mir zu schlafen.«
»Nein, im Ernst«, erwiderte Harry. »Es gibt eine Amerikanerin, die Leute wie mich unterstützt. Das Schlimme ist nu r – sie kennt mich!«
»Dann wäre die erste Bedingung ja erfüllt. Und die zweite wahrscheinlich auch.«
»Mir ist jetzt nicht nach Witzen zumute! Diese Amerikanerin wollte in Paris mal ein Bild von mir kaufen. Aber ich habe mich über sie lustig gemacht, und am Ende war sie stinksauer. Die wird einen Teufel tun und mir helfen!«
Lulu dachte nach. »Hat sie trotzdem ein Bild gekauft?«, fragte sie.
»Ja«, sagte Harry. »Aber nicht von mir, sondern von Laura.«
»Das ist ein gutes Zeichen!«, erklärte Lulu.
»Wie bitte?«
»Natürlich! Sie wollte dir eins auswischen! Also mag sie dich!« Als Lulu sein dummes Gesicht sah, nahm sie seinen Kopf zwischen die Hände und drückte ihm mit ihren feuchten Lippen einen Kuss auf die Stirn. »Ach Harry, du hast ja keine Ahnung, wie sehr die Weiber dich lieben. Setz dich hin und schreib ihr. Ich bin sicher, sie wird dir helfen.«
16
Die beiden weißen Männer brachten Laura in einen hell erleuchteten Raum, der nur aus weißen Kacheln bestand. Inzwischen kannte sie ihre Namen, sie hatten ihr täglich zu essen und außerdem Spritzen gegeben, während sie auf dem Bett festgebunden war. Der eine hieß Jesús und führte das Kommando. Der andere hieß Santos und gehorchte. Beide waren sie Diener im Haus der Angst.
»Wo ist Harry?«, fragte Laura.
Die zwei kümmerten sich nicht um sie. Als wäre sie ein Gegenstand, setzten sie sie auf einen weiß gekachelten Sockel und rauchten eine Zigarette.
»Sie hat sich von oben bis unten vollgeschissen«, sagte Santos. »Bis zum Hals, wie ein Baby. Warum lassen wir sie eigentlich nie aufs Klo?«
»Anordnung von Dr. Gonzáles«, erwiderte Jesús. »Je länger sie in ihrer eigenen Scheiße liegen, umso zahmer werden sie.«
»Dr. Gonzáles hat gut reden. Er muss die Schweinerei ja nicht wegmachen.«
Jesús machte einen Zug an seiner Zigarette und zuckte die Schulter. »Das ist Psychologie, davon hab ich keine Ahnung.«
Laura staunte, wie ungeniert die beiden in ihrer Gegenwart miteinander sprachen. Wahrscheinlich glaubten sie, sie würde sie nicht verstehen. Aber da täuschten sie sich. Sie verstand fast jedes Wort. Sie hatte als junges Mädchen ein Jahr lang in Florenz gelebt, und Spanisch war nur eine Abart des Italienischen. Nur wusste sie nicht, was der heimliche Sinn der Botschaften war. Vermutlich
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