Himmelskinder
besser kennen als der Therapeut und seien oftmals imstande, ihren Gruppennachbarn weitaus einfühlsamer und treffender zu konfrontieren. So entwickele sich die Gruppe oft als Zufluchtsort, weil es nur hier möglich sei, sich als der zu zeigen, der man sei.
Und so weiter und so fort, Frau Fricke kam richtig in Fahrt. Bulleken war erleichtert, als die Vortragende ihr Pulver verschossen hatte, weit vor der Zeit. Es reichte einfach. Immerhin hatten alle einen mehr oder weniger harten Arbeitstag hinter sich, bis auf Frau Fricke vielleicht, die enttäuscht schien, dass keine Fragen mehr gestellt wurden.
Gegen einundzwanzig Uhr trat er als freier Mann vor die Tür und sah zu, dass er Land gewann.
31
47 Jahre zuvor
Der schmale rotgoldene Streifen vergrößerte sich und war endlich auch über den Hügelkamm gekommen. Als das Licht die Dachziegel des Gutshofs erreichte, wurde die dünne Rauchfahne sichtbar. Aus den offenen Fenstern der Gutsküche war schon vor Stunden Topfgeklapper zu hören gewesen. Ein Mann in den Achtzigern, das Gesicht mit Rasierschaum bedeckt, öffnete eine Flügeltür im hinteren Teil des Hauses und betrachtete kritisch den Himmel. Seine Hosenträger waren vor der Brust mit einem geschwungenen Lederband verbunden, auf das der seit Generationen befolgte Wahlspruch der Trüstedts gestickt war: Tue recht und scheue niemand.
Der Alte hielt sich trotz seines Alters gerade. Brustkorb und Arme waren muskulös, und die Schultern zeigten die Hauttönung dessen, der bei Wind und Wetter im Freien arbeitete.
Sein Blick fing eine Gestalt ein, die sich gerade auf dem Fahrrad die Pappelallee zum Gutshaus hinaufquälte, bald jedoch abstieg und das Rad führte.
»Sieh an, sieh an, das konnte er früher besser. Zu viel Pasteten und die Fleischeslust«, brummte der Alte vor sich hin und dachte nicht ohne Neid an die Haushälterin des Pfarrers, eine stattliche Person, die des Nachts, so wurde im Ort gemunkelt, gern ihr Bett verließ, um ein anderes aufzusuchen.
Die Pappelallee zog sich über etliche Kilometer bis zum Gutshof hin. Während sie am Anfang ihres Weges und den größten Teil recht schmal blieb, öffnete sie sich zum Ende hin zu den Stallungen und Scheunen. Hier hatten viele Winter und Sommer das Holz ausgebleicht, das Fachwerk bog sich unter der Last des Daches.
Der Alte sah dem Pfarrer zu, der sein Fahrrad neben dem Pferdestall abstellte und die letzten Meter zu Fuß ging.
»Na, da werden wir draußen feiern können; das Wetter hält sich, Hochwürden. Gehen Sie nur immer in die gute Stube, die Frauenzimmer erwarten Sie bereits. Lassen Sie sich einen Wacholderschnaps geben. Er ist noch besser als der vom letzten Jahr«, stellte er zufrieden fest und schloss die Tür.
Mit kräftigen Bewegungen zog er sein Rasiermesser mehrmals über das Schleifband und rasierte sich rasch fertig.
Bevor er seinen heutigen Arbeitsplatz aufsuchte, begrüßte er die sieben oder acht Frauen, die bei den Vorbereitungen für das Taufessen befanden: alle Tiegel, Töpfe, Kasserollen, Pfannen und Kessel schienen ihren angestammten Ort verlassen zu haben. Dutzende Eier und Mehl wurden zu Teig verarbeitet, Saucen angerührt, Süßspeisen vorbereitet und Unmengen von Gemüse geputzt. Einen Moment betrachtete der Alte das geschäftige Hin und Her. Er griff sich ein paar Kirschen, steckte eine in den Mund und spuckte den Kern auf den Küchenboden.
»Na, Frauensleute, dass es mal nur nicht zu wenig wird.«
Als er seine Schwester Lene entdeckte, die er seit Kindertagen verabscheute, wütete er gleich los:
»Sieh zu, dass du den Frauen nicht im Weg stehst, und bring mir was zu essen rüber. Nur etwas Brot und Sülze.«
»Nein? Dann vielleicht etwas von der guten Fischpastete?«
»Herrgott«, tobte er los und warf mit den restlichen Früchten nach seiner Schwester: »Du wirst auch immer tauber, du blödes Ding. Nur Sülze, keine Fischpastete!«
Aufgebracht knallte er die Tür hinter sich zu und setzte seinen Weg fort. Wie sein Vater dieses Weib nur immer hatte bevorzugen können.
Bald blieb er stehen, um über die Ebene nach Westen zu schauen. Am Horizont war gerade noch ein Ausläufer des Waldsees zu erkennen. Sechs von den großen Reusen hatte er dort gestern Abend mit Friedrich ausgelegt. Beide hatten sie ein paar Gläser zu viel getrunken, und der schwere Holzkahn war in der Dunkelheit immer wieder ins Schwanken geraten. Seine Angst nicht verhehlend, hatte er den Jüngeren ermahnt:
»Junge, nun mach mal langsam, sonst
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