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Himmelsmechanik (German Edition)

Himmelsmechanik (German Edition)

Titel: Himmelsmechanik (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maurizio Maggiani
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gemocht hatte, so oft, wie er sie sich auf seinen Friedhöfen und denen der anderen hatte verstecken lassen und immer einen Weg fand, ihr etwas zu essen, eine Decke und vielleicht sogar ein paar Patronen zu bringen. Doch dann kam der Omo Nudo.
    Und der Omo Nudo hat noch einen draufgesetzt: Das Grab, das er von Melina geerbt hatte. Das Grab, das diese eigensinnige Frau sich hatte machen lassen, für sich und ihren Sohn und die Kinder ihres Sohnes. Da war sogar Platz für ihren Ehemann, so sicher, wie sie war, dass er wenigstens als Toter früher oder später bei ihr seine Rechnung begleichen und sie mit gebeugtem Haupt um Verzeihung bitten würde. Melinas Grab war von pharaonischer Pracht, es war die Vollendung ihres verschwenderischen Stolzes, das architektonische Werk, das ihr Unglück prächtig und sie vor allen Verstorbenen des Tals groß gemacht hat. Wenn es auch nicht unseren Geschmack trifft, beladen wie es ist mit einer Art spätbabylonischer Schwere, so ist das dennoch der Ort, an den man die Touristen führen müsste, um die stilistische Kühnheit unserer Marmorkünstler, den erstaunlichen Skulpturstil unserer Steinmetze zu zeigen. Man hat so viel Platz da drinnen, dass man sogar als Toter friert, »und ich allein mit der Melina will ich da nich’ rein«, war sein Vorschlag. »Sie muss jetzt nur kurz oder gar nicht mit der Melina auskommen, weil es ’ne Frage von einer, zwei Jahreszeiten ist, bis ich mich danebenleg«, war seine Bitte. Und nun ist Marta dort und hat ihren Grabstein, auf dem steht, falls es überhaupt jemand wissen will, dass sie Kurierin, Amme und Schafhirtin gewesen ist. Sie ist dort, weil auch der Omo Nudo an das hat erinnern wollen, woran er sich nicht erinnern wollte. Schließlich auch er; schade. Dass es schade ist, weiß auch er, und er wusste es auch, bevor Marta von uns ging. Wenn es stimmt, und es stimmt sicherlich, dass er der Unbekannte der letzten Passion ist. Auch das ist eine schöne und erbauliche Geschichte für unsere exotische und launische Seele, ihre einzigartige Erziehung zum Guten und zum Heiligen.
    Aus irgendeinem Grund, den die Pfarrer sich nicht zu erklären trauen, feiert das Volk in der langobardischen Festung von Castiglione, die vor tausend Jahren dem heiligen Michael geweiht wurde, bereits am Gründonnerstag die Passion und den Tod unseres Herrn. Mit einer Verkürzung von Zeit und Raum, die von keinem praktischen Nutzen zu sein scheint, wird Christus schon unmittelbar nach der Fußwaschung abgeurteilt, ausgepeitscht, mit Dornen gekrönt, mit dem Kreuz beladen und unter dem Hohn der römischen Soldaten und der Feindseligkeit des Volkes zu seiner Hinrichtungsstätte geführt. Als ob diese Geste demütiger Vertrautheit und freundlicher Pflege als so schwerwiegend betrachtet würde, dass sie eine sofortige schwere Bestrafung verdiente. Als ob die Tatsache, sich zu Füßen dessen zu demütigen, den man liebt, als so abscheulich zu betrachten wäre, dass man zwischen Verbrechen und Bestrafung keine Zeit mehr verstreichen lassen könnte.
    Ich glaube, dass diese Perversion vom schlechten Einfluss der Langobarden kommt, die sich in den zugehörigen Gebieten um Castiglione so lange als Herren aufgespielt haben, und es ist bestimmt kein Zufall, dass der hinzurichtende Christus per traditioneller Vorschrift eine rötlichbraune Perücke, die langobardische Haarfarbe, tragen muss. Die Perücke aus altem, stets erneuertem Menschenhaar ist Eigentum der mächtigen Bruderschaft des Heiligen Kreuzes. Die Bruderschaft ist so mächtig, dass sie alles besitzt, was mit dem Passionsdonnerstag zu tun hat. Ihr gehören die Harnische, die Lanzen und die Schwerter der römischen Legionäre, ihr gehört der Dornbusch, von dem die Dornenkrone stammt, ihr gehören das Holz und die Nägel der Kreuzigung, das Büßergewand des Christus, ihr gehört sogar das Becken der Fußwaschung und der Priester, der von der Bruderschaft nach ihrem Belieben berufen und zur Vollführung der Zeremonie nach absolutem Ermessen bezahlt wird.
    Es ist ihr Christus. Der nie nach dem benannt wird, was er ist, sondern nach dem, wie er erscheint: der Unbekannte. So stellt sich der Erlöser dar, als ein Unbekannter; ein Profil, gänzlich vom Strohsack verhüllt, aus dem er nur durch ein einziges Loch, mehr oder weniger auf der Höhe eines seiner Augen, sein Schicksal erspähen kann. Die Perücke und die in die Perücke hineingesteckte Dornenkrone sind über den Stoff drapiert, die Füße sind in schmutzige Fetzen

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