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Himmelsschwingen

Himmelsschwingen

Titel: Himmelsschwingen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jeanine Krock
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seiner Standardantworten gab, und tippte sich an die Stirn. »Weil sie begonnen haben zu denken! Zusammen mit den verloren geglaubten Gefühlen ist auch ihre Fähigkeit gewachsen, die Dinge aus verschiedenen Blickwinkeln zu sehen, und sie haben ein gewisses Einfühlungsvermögen entwickelt. Wenn du erst einmal siehst, was und wie dein Gegenüber fühlt, kannst du dir ein differenzierteres Bild von ihm machen.« Als der erwartete Widerspruch ausblieb, sagte sie: »Aber das weißt du längst selbst, habe ich recht?«
    Jemand räusperte sich, und sie fuhr herum. Der Kellner war mit einem kleinen Tablett in der Hand an den Tisch getreten, um die Rechnung zu präsentieren. »Wir schließen in einer halben Stunde. Dürfte ich mir erlauben …«
    »Natürlich!«, unterbrach Iris ihn, nahm die in Leder gebundene Mappe entgegen und nickte.
    Zu verbergen, wie sehr sie sich über die Störung ärgerte, fiel ihr nicht leicht. Samjiel war nahe dran gewesen, ihr das Herz auszuschütten. Und nun musste sie womöglich noch einmal ganz von vorne beginnen. Es ist zum Heulen!
    Der Kellner schien trotz ihres Bemühens zu spüren, dass er störte. Womöglich lag es aber doch nur an dem hohen Anspruch an gutem Service, den man hier pflegte – je denfalls verschwand er ebenso lautlos, wie er gekom men war.
    Iris schlug die Ledermappe auf und stieß einen leisen Pfiff aus.
    Samjiel konnte die Zahlen offenbar lesen. Er schluckte. »Ich …«, begann er.
    »Kein Thema, das geht auf mich.« Natürlich war ihr bekannt, wie knapp Michael seine Leute hielt, und sie hatte ohnehin nicht damit gerechnet, dass er sie einladen würde. Bei Unsterblichen wie ihm wusste man aber nie, in welcher Epoche sie ihre Umgangsformen zuletzt aktualisiert hatten, und deshalb hielt sie es für angebracht, ihn nicht womöglich in seiner männlichen Ehre zu verletzen. Dass Frauen ihre Rechnungen selbst beglichen, war schließlich noch nicht besonders lange und auch keineswegs überall üblich. Ebenso wenig wie ihre Besuche in Luxus-Restaurants. Normalerweise boten ihre Aufträge wenig Gelegenheit dazu, deshalb genoss sie es, eine Carte Blanche von Nephthys erhalten zu haben. Was immer es kostet – du musst eine Lösung finden! , hatte diese verlangt. Und genau das versuchte Iris nun auch.
    »Hättest du ein paar Rubel für das Trinkgeld übrig? Mit Bargeld bin ich gerade nicht flüssig.« Sie unterzeichnete den Beleg und tauschte die Scheine, die er ihr reichte, gegen ihre Kreditkarte aus, die sie nachlässig in der Tasche verschwinden ließ, wo auch eine Rolle Geldscheine steckte. Dabei machte sie sich mehr Gedanken über diese Schwindelei als über eine mögliche Gefahr, beraubt oder übers Ohr gehauen zu werden. Denn ein Mensch, der es darauf anlegte, den Himmel zu betrügen – so viel stand fest –, zahlte am Ende immer drauf.

     
    Tief über den Häusern und Palästen hingen dunkle Wolken, und der Regen schlug in den zahllosen Pfützen dicke Blasen. Der lichte Zauber, der dieser einzigartigen Stadt ein sanftes Strahlen verlieh, war erloschen. Aus den Gesichtern der Menschen, die ihr jetzt noch begegneten, war das Lächeln wie fortgewaschen. Die letzten Bahnen fuhren in diesem Moment in ihre Depots am Stadtrand ein, wo sich eine Armada müder Putzleute daranmachte, sie für den nächsten Tag zu reinigen. Und wer auf einer der Inseln wohnte, dem war während der nächsten Stunden sogar der Heimweg abgeschnitten.
    Die Lichter der hochgeklappten Brücken glitzerten im dichter werdenden Regen, der, vom Wind landeinwärts getrieben, die plötzlich Heimatlosen bis auf die Haut durch nässte, weil am Nachmittag niemand mit dem abrupten Ende des fröhlichen Sommertraums Weißer Nächte gerechnet hatte.
    Miljena hatte geduldig darauf gewartet, dass die beiden Engel endlich aus dem Restaurant kamen. Mit schmalen Augen beobachtete sie, wie der blonde Engel, der ihr schon seit Wochen folgte, ohne etwas zu unternehmen, schützend seinen Mantel um die Schultern der jungen Frau legte. In diesem Lokal verkehrte der Präsident, wenn er in der Stadt weilte, und Theaterleute hatten darüber geredet, was ein einziger Teller Suppe kostete: mehr, als ihre Mutter in einem guten Monat nach Hause brachte. Und diese Engel wollten sich anmaßen, sie und ihresgleichen zu verurteilen?
    Mama ist tausendmal mehr wert als eine einzige Feder an ihren Schwingen! Miljena ballte die regennassen Hände zu Fäusten. Wie gern hätte sie selbst Flügel besessen.
    Es geschah nicht oft, dass sich

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