Himmelsschwingen
gern in einer trockenen Wohnung gewesen.
Das leise Trommeln des Regens war verstummt, und über ihr gaben die Wolken den Blick auf ein blasses Himmelgrau allmählich wieder frei. Nur der Westwind blies unvermindert und trocknete den Asphalt leerer Straßen. Miljena gähnte und betrachtete das Baugerüst am gegenüberliegenden Haus. Kurz entschlossen kletterte sie hinauf. Der Platz, den sie hoch oben fand, war wie ein Geschenk. Nicht nur konnte sie nun deutlich erkennen, was in der gegenüberliegenden Wohnung vor sich ging – hinter der Plane, die für die hier entstehende Edelboutique warb, war sie zumindest notdürftig vor der Aufmerksamkeit der Engel geschützt. Mit ihrem Messer schnitt sie ein Loch hinein und bereitete sich auf eine lange Wartezeit vor. Vielleicht , dachte Miljena, während sie gebannt die Szene in der Wohnung gegenüber beobachtete, sind die beiden gar nicht meine Feinde.
Als Iris neben Samjiel über den Steg zurückging, schwankten die Planken unter ihren Füßen stärker als zuvor. Die Boote tanzten auf der Newa, das Wetter war umgeschla gen und bescherte ihnen beinahe eine richtige Nacht. »Würdest du mich ein Stück begleiten?«
Sein sehnsuchtsvoller Blick zum Turm der Peter-undPaul-Kathedrale entging ihr nicht, aber sie hatte keine Lust, dort hinaufzufliegen. Erstens war es kein sicherer Ort, zweitens saß sie nicht gern im Regen.
Er trat von einem Fuß auf den anderen. »Wohin?«
»Wein gibt es bei mir auch.«
»Fang doch nicht schon wieder davon an!« Sein Tonfall ließ ahnen, wie peinlich es ihm war, dass sie von den Barbesuchen wusste. »Es ist ja nun nicht so, als könnten wir süchtig werden.«
»Können wir nicht?« Sie zog eine Augenbraue hoch. »Das glaubst du wirklich! Sam, ich wette, wir haben genügend Gesprächsstoff für mehr als eine Nacht.«
»Iris!«, warnte er. »Ich bin nicht einer deiner Schutzengel, mit denen du umspringen kannst, wie es dir gefällt. Bisher habe ich mitgespielt, weil es sich einfach ergeben hat. Das heißt aber nicht …«
»Schon in Ordnung! Ich habe es nicht böse gemeint.« Beschwichtigend legte sie ihm die Hand auf den Arm. »Außerdem spiele ich kein Spiel. Weder mit dir noch mit dem Leben anderer.« Sie hatte mit ihrer Befürchtung leider richtig gelegen, die einzigartige Stimmung war seit der Unterbrechung durch den Kellner verflogen.
»Dann wäre es nett, wenn du mir erklären könntest, was los ist.« Der General klang spröde wie eine alte Keramik.
»Genau das habe ich vor. Komm, es ist nicht weit.« Ohne sich umzudrehen, marschierte sie los.
»Ich kann mich, auch wenn du das vielleicht nicht glaubst, recht gut daran erinnern, wo du wohnst.« Mit wenigen Schritten war er bei ihr und hielt sie zurück. »Warte!«
Widerstrebend blieb sie stehen und stellte fest, dass er sie nur zurückgehalten hatte, um ihr seinen Mantel als Schutz gegen den Regen um die Schultern zu legen. Eine ziemlich überflüssige Fürsorglichkeit, denn sie war bereits bis auf die Haut durchnässt, und ihre Tätowierungen schimmerten längst durch das helle Kleid hindurch. Diese Geste ließ dennoch etwas in ihrem Inneren schmelzen. Sie hatte nicht einmal gewusst, dass es sich dort gleich unter – oder war es mittendrin? – ihrem Herzen befand, aber was auch immer damit gerade geschah, es fühlte sich himmlisch an.
Ihre Nähe verwirrte und beschwingte Samjiel. Er hätte nicht erklären können, wie das zusammenpasste, und es war natürlich eine Illusion, aber bevor es dem Ende zuging, wollte er den irren Cocktail aus Gefühlen noch ein klein wenig länger genießen.
Das Lächeln, das sie ihm schenkte, fühlte sich an wie ein warmer Sommertag. Ihr Lachen wie das Prickeln der Salzwassertropfen auf seiner Haut, anregend und stets beunruhigend, denn das Meer war nicht sein Element.
Als er nach dem etwas unglücklichen Abgang aus dieser verteufelten Bar im breiten Bett ihres Apart ments erwacht war, hatte er sich die Zeit genommen, den Duft ihres Körpers zu genießen, der schwach in den Kissen hing. Was auch mit ihm geschehen würde, bis zum letzten Atemzug wollte er die Erinnerung an diese einzigartige Mischung aus dem Duft frischer Frühlingswiesen behalten. Und allmählich begriff er auch, dass es auf keinen Fall nur Dankbarkeit war, die er empfand. Schon seit ihrer ersten Begegnung konnte er nur noch an Iris denken. Ganz gleich, was oder wie viel er trank, ob er über die Veränderungen in seinem Dasein nachdachte – sie war immer da. Und nun
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