Himmelsschwingen
seien geflügelt.
Er verschränkte die Arme vor der Brust und verzog keine Miene, doch insgeheim grauste es ihn bei der Vorstellung, für immer zu Stein erstarrt in der Einsamkeit auf das Jüngste Gericht zu warten. »Und da nennt ihr uns grausam?«
Gabriel fuhr herum und bedachte ihn mit einem abfälligen Laut. »Wer hat dich gefragt?«
»Jungs, entspannt euch!« Iris hob in einer friedfertigen Geste beide Hände. »Gabriel …«
Der Wächter würdigte sie keines Blickes.
»Möchtest du mir jetzt bitte erzählen, was dich hierher geführt hat?« Iris’ Stimme hatte einen ausgesprochen eigenartigen Tonfall angenommen. Als sie weitersprach, klang es wie die vielstimmige Interpretation eines Lieds, dessen Melodie tief in jedem von ihnen lebte, die aber nur wenige zu erwecken vermochten. Vertraut und fremdartig betörend zugleich nahm sie die beiden Engel mit ihrem Zauber gefangen, der erst allmählich verflog, obwohl sie längst schwieg.
Gabriel befreite sich als Erster, vermutlich hatte er als Iris’ Kollege Erfahrung darin sammeln können, das feine Gespinst ihrer Magie zu verlassen. »Ja, schon gut. Ich bin nicht hergekommen, um dir Stress zu machen. Das kannst du augenscheinlich selbst viel besser.« Mit einem anzüglichen Blick auf den derangierten Zustand ihrer Kleider ließ er sich in den einzigen Sessel fallen und legte die Füße hoch. »Setzt euch.« Als weder Iris noch Samjiel reagierten, stand er wieder auf. »Fakt ist, dass ich nicht weiß, ob er mit jemandem gesprochen hat, bevor er zu uns kam. Aber ich muss ja wohl nicht erklären, was passiert, wenn Michael der Gerechte erfährt, dass sein erster General derzeit ein wenig …« Er zögerte kurz und lachte dann anzüglich. »Wie soll ich sagen? Emotional ein wenig instabil ist?«
»Es ist besser, du gehst jetzt!« Iris schob ihn zur Balkontür. »Vielen Dank für die Warnung.«
»Du sollst nicht den Überbringer der Nachricht töten!«, deklamierte Gabriel dramatisch, lachte trocken und sprang auf das Geländer. Die mächtigen Schwingen bereits geöff net und für das menschliche Auge unsichtbar, drehte er sich noch einmal um. »Er ist übrigens nicht der Einzige, der euch beobachtet. Als ich ankam, schlief in dem Baugerüst dort drüben ein ganz bemerkenswertes Geschöpf. Aber das ist wohl eher deine Baustelle , verehrter General!« Gabriel zwinkerte vertraulich und schraubte sich mit we nigen Flügelschlägen empor, bis er in den Wolken ver schwand.
»Nein!« Iris versuchte vergeblich, Samjiel festzuhalten, als er sich ebenfalls auf das Eisengeländer schwang. Das atemberaubende Tempo, mit dem er sich bewegte, erinnerte sie daran, mit wem sie es zu tun hatte. Als sie sich über das Geländer lehnte, war er nirgendwo zu entdecken. »Sam?«, fragte sie unsicher, erhielt aber keine Antwort.
Gabriel würde sich hoffentlich nicht in eine Auseinandersetzung mit ihm verwickeln lassen. Lächerlich, wie sich die beiden aufgeführt hatten. Wie zwei gekränkte Platzhirsche waren sie ihr vorgekommen. Natürlich war es ihr auch ein bisschen peinlich, beim Knutschen erwischt worden zu sein, aber sie hatte sein freches Zwinkern gesehen und vertraute darauf, dass er sie nicht verpfeifen würde. Die Frage war, ob Samjiel seine Gefühle auch unter Kontrolle hatte. Nicht, dass sie einen Kontrollverlust im passenden Augenblick nicht zu schätzen wüsste. Himmel, kann der küssen! Mit den Fingerspitzen fuhr sie sich über die Lippen und lächelte. Doch dann sah sie wieder besorgt zum Himmel. Wo war er bloß hingeflogen?
Gerade war sie im Begriff, ihm zu folgen, da kam er zurück, und beide prallten auf dem kleinen Balkon gegeneinander.
»Da ist niemand mehr.«
Diese Entdeckung ist es sicherlich nicht, die seinen Atem beschleunigt , dachte Iris. Überrumpelt von einer an ihm bisher unbekannten Zielstrebigkeit und zweifellos auch von der Dominanz, die er zu jeder Zeit ausstrahlte, ließ sie sich ohne zu protestieren ins Zimmer zurückschieben.
Hinter ihnen fiel die Balkontür zu, alle Lampen erloschen. Der Kamin war nun die einzige Lichtquelle, bis Samjiel mit einer einzigen Handbewegung die Kerzen zum Brennen brachte. Sie tauchten den Raum in warmes Licht. Das Feuer im Kamin loderte auf, ein Holzscheit fiel in sich zusammen, Funken stoben, und Iris hätte schwören können, nicht mehr in dieser Welt zu sein. Der Ausdruck wilder Entschlossenheit in Samjiels Gesicht machte ihr Angst, und gleichzeitig erregte er sie.
»Ich bin verloren.« Er beugte sich
Weitere Kostenlose Bücher