Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Himmelstal

Himmelstal

Titel: Himmelstal Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marie Hermanson
Vom Netzwerk:
Fenster.
    »Spitzenforschung«, sagte er. »Die Speerspitze der Neuropsychiatrie.«
    Er rief eine Wache zu sich.
    »Bitte kontrollieren Sie diesen Patienten«, sagte er und
klopfte mit dem Zeigefinger ans Glas. »Ich glaube nicht, dass das normaler Schlaf ist.«
    Daniel schaute durch die Fenster in die Gesichter. Wie Geschöpfe aus einer anderen Welt starrten sie ihn durch die kleinen Löcher an. Ihre Köpfe waren ganz oder teilweise geschoren, die Augen entweder voller Gefühle oder ganz leer. Es sah alles so unwirklich aus.
    Er wusste, dass es ihn empören müsste, was er da sah, dass er hätte protestieren müssen. Aber er war müde, nicht nur physisch, sondern auch im Denken und Fühlen. Er wollte eigentlich nur schlafen, und Sorge machte ihm im Moment nur, dass der Korridor so lang war und der Boden sich irgendwie zur Seite neigte, als seien sie auf einem Schiff. Die kajütenähnlichen Fenster verstärkten diesen Eindruck, Daniel verspürte eine leichte Seekrankheit.
    Das Zimmer, von dem der Doktor gesprochen hatte und in dem er übernachten konnte, kam ihm nun nicht mehr so abstoßend vor. Er würde es sowieso nicht bis nach Hause in die Hütte schaffen. Tatsache war, dass er dieses Bett auf der Stelle brauchte. Er wankte, und der Doktor fasste ihn unterm Arm.
    »Es ist nicht mehr weit, mein Freund. Kannst du noch gehen?«
    Daniel nickte. Rechts von ihm tauchte ein Frauengesicht auf, wie ein altes Foto mit dem runden, genieteten Stahlrand als Rahmen. Ein mageres Porzellangesicht, sehr blass, mit blauen Ringen unter den Augen und dunklen, schattenhaften Stoppeln auf dem kahlen Schädel. Fremd, unmenschlich und gleichzeitig eigenartig vertraut. Er hatte das Gesicht schon einmal gesehen, er kannte es. War es seine Mutter? Nein, natürlich nicht. Seine Mutter war tot. Aber vielleicht war diese Frau auch tot?
    Er drehte sich um und blickte zurück auf die Reihe von Türen, an denen er vorbeigekommen war. Vielleicht wa
ren all diese Menschen tot? Oder wenn nicht tot, so doch wenigstens … Ja, lebendig waren sie auf jeden Fall nicht, egal was Doktor Fischer behauptete. Sie befanden sich immerhin unter der Erde.
    Er erinnerte sich an das dicke, eigenartige Buch, das sein Großvater zu Hause in Uppsala im Regal gehabt hatte und in dem Daniel halb ängstlich, halb begeistert geblättert hatte: Dantes Inferno mit Gravuren von Gustave Doré. Nackte, verdrehte Körper, von Schlangen gequält, Feuer und Schrecken, wie man es sich kaum vorstellen konnte. Verurteilt zu ewigem Leiden.
    »Wie geht es dir, Daniel?«, sagte Doktor Fischer dicht an seinem Ohr.
    »Mir ist ein wenig schwindelig«, flüsterte er.
    »Soll ich eine Trage kommen lassen?«
    »Nein, ich bin nicht krank.«
    Er richtete sich auf, und mit seinem Vergil am Arm stolperte er weiter durch die Unterwelt.
    »Da vorne ist es«, sagte Doktor Fischer aufmunternd.
    Vor ihnen stand eine Wache und hielt eine Tür auf. Doktor Fischer und Daniel gingen hinein.
    Ein scharfer Geruch nach Reinigungsmitteln und Urin schlug ihnen entgegen. Das Zimmer war klein und mit hochglänzender, weißer Lackfarbe gestrichen, die das Licht der Leuchtröhren hart reflektierte. Es gab ein Bett und eine Tischplatte, beide waren an die Wand geschraubt, außerdem einen Hocker, der wie ein Stahlzylinder geformt und mit einem Kissen aus schwarzem Kunststoff bezogen war.
    »Hübsch«, murmelte Daniel verwirrt und zeigte auf den Hocker in minimalistischem Design. Dann sank er aufs Bett. Er war so müde, dass er kaum wusste, wo er war.
    »Und praktisch«, fügte Doktor Fischer hinzu und klapp
te den Sitz hoch, so dass aus dem Hocker eine Toilette wurde.
    »Phantastisch«, lallte Daniel und schloss die Augen.
    »Jetzt darfst du schlafen, mein Freund. Ich glaube nicht, dass es Probleme gibt. Ich habe dir ein ziemlich starkes Medikament in den Tee gemischt.«
    Das Licht wurde zu einem angenehmen Halbdunkel gedimmt, die Tür schloss sich mit einem kurzen, saugenden Geräusch, und Daniel öffnete noch einmal kurz die Augen.
    Durch das kleine Fenster betrachtete Karl Fischer ihn mit einem väterlichen Blick. Dann war er verschwunden.
    Daniel versank im Schlaf. Gesichter schwammen vorbei, schaukelten wie Goldfische im Wasser der runden Gläser. Das schmale, eigentümlich bekannte Porzellangesicht hatte er jetzt vor Augen, es drang aus dem Glas und beugte sich über ihn. Von unten wurde es mit einer Taschenlampe angeleuchtet.
    Plötzlich wusste er, wer das war. Die Erkenntnis bohrte sich aus seinem

Weitere Kostenlose Bücher