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Hinter dem Horizont: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Hinter dem Horizont: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition)

Titel: Hinter dem Horizont: Metro 2033-Universum-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andrej Djakow
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dem Boss der Banditen das Vergnügen an seinem Leid zu vermiesen. Sein Rücken fühlte sich an wie einziger, entblößter Nerv, und unter den Schmerzen der unaufhörlichen Hiebe krümmte sich sein Körper zusammen.
    An einem bestimmten Punkt spürte der Gequälte, dass er auf die Knie gesunken war und kurz davor stand, das Bewusstsein zu verlieren. Die Ohnmacht hätte ihm einerseits Erleichterung verschafft, aber andererseits … war da dieses verheulte Kindergesicht. Er sah es wie durch einen feuerroten Schleier: die verzerrten Lippen und die weit aufgerissenen Augen, in denen panische Angst flackerte.
    Einen geliebten Menschen zu verlieren … Ist das nicht schlimmer als der eigene Tod? Diese simple Einsicht brachte die ersehnte Erleichterung. Die Schmerzen waren zwar nach wie vor da. Doch sie konnten ihm nichts mehr anhaben, nachdem sie ihren wichtigsten Verbündeten, die Todesangst, verloren hatten. Nicht Schmerz, sondern Angst essen Seele auf. Und Sitting Bull spürte, dass die Angst auf einmal verflogen war.
    Mit einem Urschrei stellte er das eine Bein auf, zog sich mit den Armen hoch, verlegte das Gewicht auf das andere Bein und richtete sich langsam auf – den höllischen Schmerzen zum Trotz, die sich in seine Wirbelsäule fraßen.
    Das glitschige, schweißgetränkte Holz fühlte sich nicht mehr eisig an. Der Pfahl schwankte unter Sitting Bulls Gewicht, zuerst unmerklich, dann immer stärker. Plötzlich begann er, sich über dem Platz zu drehen, zusammen mit dem Schafott, den Häusern, den Steppenhunden, und stieg dabei immer höher zum Himmel. Dorthin, wo in einer Lücke zwischen den niedrigen Wolken auf einmal ein surreal riesiger Mond erschienen war …
    Der Arm des Henkers mit der Peitsche in der Hand verharrte in der Luft, als das leichenfahle Licht, das wie tropfendes Wachs herabregnete, auf die Gestalt in der Mitte der Bühne fiel.
    »Was ist los?!«, entrüstete sich Sungat.
    »Die Abmachung, Boss«, erwiderte der Fettsack und zeigte mit dem geschnitzten Griff der Peitsche auf den Erdtrabanten, der zwischen den Wolken hervorlugte. »Der Junge hat es geschafft.«
    Das Gegröle der Menge verebbte wie eine Welle am Strand. Alle Augen richteten sich wieder auf Sungat. Unter den Banditen hatte sich längst herumgesprochen, worum es bei dem Deal mit dem Gefangenen im Einzelnen ging, und nun waren alle gespannt auf die Entscheidung des Chefs.
    »Nun seht euch das an! Welch Akt der Selbstaufopferung! Gleich kommen mir die Tränen!« Sungat flüchtete sich in Ironie, nachdem er sich selbst in Zugzwang gebracht hatte. »Deine Zähigkeit ist wirklich bemerkenswert, Schlappschwanz. Ich werde tun, worum du mich so tränenreich angefleht hast. Schließlich bin ich ein Mann, der sein Wort hält!«
    Unter dem beifälligen Geraune der Menge stieg der Bandit die Treppe hinunter und ging zu Aurora.
    »Du bist frei. Hau ab. Dein Freund hat das für dich geregelt.«
    »Aber was … Was ist mit ihm? Ohne ihn gehe ich nirgendwohin!«, ereiferte sich das Mädchen unter Tränen.
    »Ich habe versprochen, dich gehen zu lassen. Für den Schlappschwanz habe ich andere Pläne.« Sungat winkte gebieterisch mit dem Arm. »Bringt Brennholz! Wir werden ihn rösten, den Bastard!«
    Auroras Beine knickten ein, und ihr verzweifelter Schrei hallte an den Häuserwänden wider, die im Lichtschein der Fackeln lagen. Durch den Tränenschleier, der sich über ihre Augen gelegt hatte, sah das Mädchen dunkle Gestalten, die zum Podium drängten. Waren das etwa die rastlosen Seelen der zu Tode gequälten Sträflinge, die gekommen waren, um ihren Bruder ins Reich der ewigen Schatten zu verabschieden?
    Alle Versuche, zu dem Pfahl in der Mitte des Platzes zu gelangen, scheiterten kläglich. Der Aufseher amüsierte sich köstlich über die wütenden Attacken des Kindes. Aurora strampelte mit den Beinen, kratzte und trommelte mit den Fäusten, bis sie plötzlich einen Schmerzensschrei hörte, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ.
    Über dem Schafott stieg dichter Rauch auf. Sungat stand in der Nähe und tätschelte eine Fackel. Aus dem eilig zusammengetragenen Scheiterhaufen loderten bereits Flammen und züngelten an den Beinen des Stummels, der am Pfahl festgebunden war. Kurz darauf schlug das Feuer hoch und hüllte sein Opfer vollständig ein …
    Aurora hörte nicht, wie das Echo eines einzelnen Schusses über die Dächer rollte, und sie sah nicht, wie eine gnädige Kugel Sitting Bull in den Kopf traf und ihn von seinen Leiden erlöste.

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