Hintergangen
kleiner werdenden Stapel von Briefen, den Aktenschredder aus Hugos Büro griffbereit, um sie zu vernichten, sobald sie sie gelesen hatte.
Nach einem kleinen Schluck Whisky, den sie dem Kaffee als Schlummertrunk vorzog, nahm sie die obersten Blätter vom Stapel.
September 1998
Meine liebe Imogen,
heute ist der Tag, an dem ich beschlossen habe, dass du diese Briefe nie lesen wirst. Wozu sie also schreiben?, magst du fragen. Aber weißt du, Imo, ich finde es tröstlich , wenn das kein zu lächerlicher Ausdruck ist. Ich habe das Gefühl, als würde ich mit dir reden – und irgendwie kann ich mir schon denken, wie du reagieren würdest. Aber ich muss nicht die Demütigung ertragen, dir das alles ins Gesicht zu sagen. Ergibt das einen Sinn? Ich bin in Sorrento und blicke gerade über die Bucht von Neapel, und es ist überwältigend. Diese Aussicht wollte ich schon seit Jahren erleben. Doch ich hatte nicht erwartet, mich dabei so zu fühlen wie jetzt. Nicht einmal dieser Blick kann den Schmerz lindern.
Hugo ist nicht bei mir. Er ist im Hotel geblieben, um ein paar Anrufe zu erledigen. Ich brauche unbedingt etwas Zeit für mich allein. Zeit zum Nachdenken. Ich hatte vor, ein Auto zu mieten, aber Hugo hat auf einem Chauffeur bestanden. Als wir um all die engen Kurven gerast sind, wo die Straße sich gefährlich an die Klippen schmiegt, und italienische Autofahrer an total blinden Ecken überholen, ist mir klar geworden: Hugo hatte recht.
Anscheinend hat er immer recht.
Das große Problem ist, dass ich nicht weiß, ob ich mich nicht einfach nur lächerlich mache. Ich habe mir alles wieder und immer wieder durch den Kopf gehen lassen und frage mich nun, ob meine romantischen Träume einfach unrealistisch gewesen sind. Folgendes ist passiert, und ich würde zu gern wissen, was du denkst. Wahrscheinlich werde ich es aber nie erfahren.
Am Tag nach der Hochzeit sind wir wie geplant in die Flitterwochen gefahren. Obwohl ich mir vorgenommen hatte, die Dinge aus Hugos Perspektive zu betrachten, habe ich immer noch diesen Stich gespürt, wie jedes Mal, wenn ich Kummer überspiele.
Als wir am Flughafen angekommen sind, ging es mir schon ein wenig besser. Ein Wagen mit Chauffeur hatte uns nach Heathrow gebracht, und ich wusste immer noch nicht, wohin es gehen sollte. Hugo hatte mir geholfen, die Kleider für die Hochzeitsreise auszusuchen. Da, wo wir hinfuhren, würde es wohl wärmer sein als in England – und auch recht glamourös, meiner neuen Garderobe nach zu urteilen. Ich wurde nicht enttäuscht.
In Heathrow angekommen, hat man uns gleich zum Erste-Klasse-Flugsteig gebracht, und Hugo hat sich herübergebeugt, um mir ein einziges Wort ins Ohr zu flüstern: »Venedig«. Das war schon eher mein Hugo. Er hat gelächelt und mich sanft auf die Wange geküsst. Was immer ihn am Vortag geplagt hatte, jetzt war er wieder der romantische Mann meiner Träume, der weiß, dass Venedig mein Lieblingsort auf der ganzen Welt ist. Ich bin bisher erst einmal dort gewesen – komischerweise zu einer Konferenz statt auf Urlaub, erinnerst du dich? Ich hatte immer mal wieder hinfahren wollen – am liebsten mit dem Mann, den ich liebte, um mit ihm eine Gondelfahrt zu machen. Kitschig, ich weiß – aber so romantisch. Und jetzt sollte mein Traum wahr werden.
Das war aber nicht das einzig Aufregende. Er hat mir außerdem verraten, dass wir eine wunderbare Unterkunft für die Zeit haben würden.
»Das Cipriani – wo sonst?« Hugo hat doch tatsächlich verschmitzt gezwinkert. »Nicht mein persönlicher Lieblingsort, aber ich habe mir gedacht, er würde dir gefallen.«
Ich war begeistert. Offensichtlich hatte ich die Dinge falsch eingeschätzt, und jetzt würde alles gut.
»Wie lange bleiben wir?«
»Nur fünf Tage.« Hugo lächelte. »Dann fliegen wir nach Neapel, und von dort noch fünf Tage nach Positano.«
Ich konnte es nicht fassen. Die Amalfiküste! Er hatte wirklich an alles gedacht.
Die lächelnde Flugbegleiterin hat mir an Bord gleich ein Glas gut gekühlten Champagner überreicht – an dieses Leben könnte ich mich schon gewöhnen, obwohl zum Leben natürlich mehr gehört als Luxus.
Alles schien perfekt. Als Hugo an der Rezeption gefragt wurde, ob er zum Abendessen reservieren wolle, gab er genau die Antwort, die ich erhofft hatte.
»Danke, aber ich glaube, wir möchten in unserer Suite speisen. Vielleicht könnte ich den Küchenchef wegen des Menüs kurz sprechen. In der Zwischenzeit wäre ich Ihnen dankbar, wenn Sie
Weitere Kostenlose Bücher