Hiobs Brüder
sich in den Schatten, den der Wagen warf. Der Nachmittag war erstaunlich warm für April, der Himmel so blau und die Luft so mild wie im Mai. Vermutlich war das der Grund für die vielen fröhlichen Gesichter auf dem Markt, dachte Simon. Die Menschen sind ausgelassen, wenn sie merken, dass auch der bitterste Winter einmal ein Ende nimmt. Ihm selbst erging es kaum anders. Der letzte war wahrhaftig der bitterste Winter seines Lebens gewesen.
Der große Schankraum des Wirtshauses war so dämmrig, dass man zuerst kaum etwas sah, wenn man aus dem hellen Sonnenlicht eintrat. Sobald die Augen sich auf das Halbdunkel eingestellt hatten, erkannten die Gefährten einen niedrigen Raum mit rußgeschwärzten Stütz- und Deckenbalken, langen Tischen und Bänken entlang lehmverputzter Wände und verdrecktem Stroh auf dem Boden.
Wegen des Markttages war das Wirtshaus gut besucht. Bauern, die ein paar gute Geschäfte gemacht hatten, waren eingekehrt, um die wenigen Pennys gleich wieder zu verjubeln. Eine Schar Mönche, die vermutlich unterwegs von einem Kloster zum nächsten waren, saßen um einen Tisch herum und betrachteten stumm das lärmende Geschehen im Schankraum – manche ängstlich, manche missbilligend, ein jüngerer Bruder mit unverhohlenem Lebenshunger.
An einem Tisch in der Ecke saß ein fein gekleideter Edelmann allein. Er hatte dem Treiben den Rücken gekehrt und starrte offenbar in seinen Becher.
Simon nickte in seine Richtung. »Kommt«, sagte er zu den Zwillingen.
Godric hielt ihn am Ärmel zurück. »Lieber nicht. Ich wette, es hat einen guten Grund, dass er den Tisch ganz für sich hat.«
Simon ließ sich nicht beirren. »Es sind die einzigen freien Plätze. Jetzt kommt schon, seid keine solchen Hasenfüße.«
Niemand hätte ahnen können, dass er selbst seinen Mut zusammennehmen musste, um auf den einsamen Trinker zuzutreten. »Vergebt mir, Monseigneur …«
Der Mann wandte den edel behüteten Kopf. »Was?«, fragte er unwirsch. Er war um die vierzig – ein typisch normannisches Aristokratengesicht mit kantigen Zügen, einer Habichtnase und dunklen Augen voller Hochmut.
»Mein Name ist Simon de Clare. Dürften meine Freunde und ich uns zu Euch setzen? Es ist kein anderen Platz mehr …«
»Jesus …«, entfuhr es dem Normannen, und seine Augen wurden riesig. Simon musste sich nicht umwenden, um zu wissen, dass es Godric und Wulfric waren, die er entdeckt hatte.
Der Mann blickte wieder zu Simon, schien einen Moment zu zögern und hob dann beide Hände, um mit einer einladenden Geste auf die freie Bank ihm gegenüber zu deuten. »Bitte.«
Doch ehe Simon und die Zwillinge Platz nehmen konnten, erschienen zwei Finstermänner in Kettenhemden wie aus dem Nichts und packten Simon bei den Armen. »Was fällt dir ein, du unverschämter …«, grollte der eine.
»Nein, schon gut, Paul«, unterbrach der Edelmann. »Lasst ihn los. Geht nach draußen und vergewissert euch, dass die Gäule versorgt sind.«
Die beiden Ritter verneigten sich schweigend und gingen zur Tür, wobei sie jeden ungeduldig aus dem Weg fegten, der nicht schnell genug beiseitesprang.
Der Normanne wiederholte die einladende Geste. »Vergebt meinen Männern, Simon de Clare. Aber Ihr reist in seltsamen Gewändern.«
»Aus gutem Grund«, gab Simon zurück, rutschte ihm gegenüber auf die Bank, und auf sein Nicken folgten Godric und Wulfric seinem Beispiel – weitaus zögerlicher als er.
Der Normanne sah sie wieder an, schüttelte verwundert den Kopf, hob die Linke und schnipste mit den Fingern. Beinah schneller, als das Auge zu folgen vermochte, eilte der fette Wirt herbei, brachte drei weitere Becher und einen vollen Krug, ehe er unter vielen Verbeugungen wieder entschwand.
»Ich habe auch einen Zwillingsbruder«, eröffnete ihr Gastgeber ihnen – erstaunlicherweise auf Englisch. »Aber wenn er und ich zusammengewachsen wären, hätten wir uns vermutlich gegenseitig erwürgt, ehe wir das Laufen lernten.«
»Denkt nicht, wir hätten noch nie damit geliebäugelt«, murmelte Godric. Er sah scheu auf seine Hände hinab, während er sprach.
Der Normanne lachte in sich hinein. »Robert de Beaumont«, stellte er sich vor. Er sagte es zu Simon, weil er vermutete, dass nur der den Namen einzuordnen wusste.
Er täuschte sich nicht. »Der Earl of Leicester?«, fragte der Junge ungläubig.
Der Mann nickte mit einer Grimasse, die verriet, dass er wenig Freude an seinem Titel hatte. »Schenkt ein, de Clare, wenn Ihr so gut sein wollt. Ist der
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