Hiobs Brüder
einem Monat gelang einigen Gefährten und mir die Flucht, und wir sind herumgeirrt, ehe wir hier schließlich zufällig Zuflucht vor einem Sturm gesucht haben.« Und um jede Bekundung von Schrecken oder Mitgefühl zu unterbinden, fuhr er fort: »Was ist mit dir? Wo warst du in all der Zeit?«
»In Paris.« Sie lächelte eine Spur wehmütig, ehe sie den Blick senkte und auf ihre Knie zu starren schien.
»Paris«, wiederholte er erstaunt.
»Dort wohnt der König von Frankreich«, klärte Haimon ihn hilfsbereit auf.
»Was du nicht sagst«, gab Alan unwirsch zurück.
Haimon hob die Hände. »Entschuldige. Ich dachte, du hättest alles vergessen …«
Alan verspürte wenig Neigung, seinem Cousin zu offenbaren, dass er »nur« seine persönliche Geschichte vergessen hatte, über die Welt im Allgemeinen aber die eigentümlichsten Dinge zu wissen schien. »Du warst am französischen Hof?«, fragte er stattdessen seine Frau.
Susanna nickte. »Ich war … verzweifelt, als du verschwunden warst, und es war der Vorschlag deiner Großmutter, dass ich für eine Weile fortging, um auf andere Gedanken zu kommen. Es war eine segensreiche Idee.« Mit einer flatternden Geste wies sie auf Haimon. »Unsere Urgroßmutter war eine Baynard, darum sind wir entfernt mit dem französischen Königshaus verwandt. Und ich hatte immer davon geträumt, einmal nach Paris zu kommen.«
Alan sah von ihr zu Haimon und fragte sich, ob sie Geschwister waren. Aber das war unmöglich, erkannte er, denn dann wäre er selbst Susannas Cousin und hätte sie niemals heiraten dürfen. Auf jeden Fall waren seine Gemahlin und Haimon vertraut miteinander, das merkte man, und hatten zumindest eine gemeinsame Urgroßmutter.
»Haimons und Susannas Väter waren Brüder«, erklärte Lady Matilda, die ein gespenstisches Talent entwickelt hatte, Alans Gedanken zu erraten. »Haimons Mutter und die deine waren Schwestern. Darum ist Haimon dein Cousin ersten Grades ebenso wie Susannas, während du und Susanna nicht verwandt seid. Oder kaum. Dritten Grades, glaube ich. Deine Urgroßmutter und ihr Urgroßvater waren Geschwister. Zwillinge übrigens. Meine Eloise brauchte jedenfalls eine Dispens, um Haimons Vater heiraten zu dürfen. Ihr hättet streng genommen auch eine gebraucht, Susanna und du, aber auf die warten wir heute noch.«
Alan hob abwehrend die Linke. »Ich glaube, das solltest du mir lieber aufschreiben, Großmutter. Ich komme nicht mehr ganz mit …« Er nahm sich ein Stück Brot vom Teller, um seine Finger davon abzuhalten, sich nervös zu verknoten, schob den Teller dann Susanna zu und fragte: »Du warst also eine der Damen der französischen Königin?«
»In gewisser Weise. Es ist ein großer Hof, verstehst du. Ich habe die Königin nicht oft gesehen, sondern war eine der Ammen der kleinen Prinzessin Marie. Sie kam kurz nach meiner Ankunft dort zur Welt, und da hat es sich irgendwie ergeben. Nun, mir war es recht. Aliénor von Aquitanien ist eine unmögliche Frau, Königin oder nicht. Na ja, was will man erwarten? Die Aquitanier sind ja alle ein wenig wunderlich. Sie umgibt sich mit Dichtern und Musikern und allem möglichen seltsamem Gelichter, und jeden Abend in der Halle muss man sich stundenlang ihre blöden Verse anhören. Sie tanzt dem armen Louis auf der Nase herum, sie brüskiert seine kirchlichen Ratgeber, und erst kurz vor meiner Abreise hörte ich ein Gerücht …«
Ihr Geplauder verschwamm zu einem sachten Plätschern; Alan hörte nicht mehr richtig zu. Er hatte den Ellbogen auf die Tischplatte und das Kinn auf die Faust gestützt, knabberte dann und wann an seinem Brot und betrachtete diese Fremde, mit der er verheiratet war. Ihre Augen leuchteten, während sie von Paris und der unmöglichen französischen Königin erzählte, doch sie hielt den Blick meist gesenkt. Alan stellte fest, dass er dem Eindruck sittsamer Bescheidenheit misstraute, den das erwecken sollte. Das verhaltene kleine Lächeln auf ihren Lippen verriet, dass sie stolz darauf war, die große weite Welt gesehen und in königlichen Kreisen verkehrt zu haben. Und warum auch nicht, fand er. Wieso gab sie vor, über all das die Nase zu rümpfen?
»… auf einen Kreuzzug zu gehen, und da wusste ich, es war an der Zeit für mich, nach Hause zu kommen«, hörte er sie sagen. »Ich meine, kannst du dir etwas Skandalöseres als eine Königin auf dem Kreuzzug vorstellen? Aber sie lässt sich durch nichts davon abbringen, und Louis kann sie nicht kontrollieren, der
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